Miria und Räuber Karabum

Miria und Räuber Karabum_Dimiter Inkiow

Miria und Räuber Karabum, Dimiter Inkiow

„Schau mal Mama, mein Bruder füttert das Pferd!“ Ansich ist das kein ungewöhnlicher Ausruf für ein Kind. Nur stehen wir nicht an einem Koppelzaun, sondern sitzen zuhause am Küchentisch. Und das Pferd, das der Lütte liebevoll mit Leberwurstbrot versorgt, ist ein Stoffpferd.

Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, aber seit einigen Wochen schleppt der Junge Kuscheltiere oder Puppen aller Art beharrlich mit sich herum. Ob morgens, wenn die Kinder zu uns ins Elternbett rüberkommen, um auf der zwei mal zwei Meter Matratze Trampolin zu springen, ob Mittags, wenn die Schwester aus dem Kindergarten abgeholt wird oder nachmittags zum Toben in den Garten: Überall hin begleiten ein bis acht Spielsachen das Kind. Mal schiebt er sie im Puppenbuggy herum, mal bauen er und seine Schwester Betten und Höhlen für die Spielsachen oder picknicken mit ihnen. Als ob die Puppen und Kuschelteddys menschliche Bedürfnisse hätten, wie Essen, Trinken, Schlafen und liebgehabt werden.

 

In den ersten Lebensjahren wurde die Große oft gefragt: „Wie heißt denn deine Puppe?“ Sie hat darauf nie etwas geantwortet, sodass ich mich genötigt sah, einzuwerfen: „Sie gibt ihnen keine Namen. Hat sie bislang jedenfalls nie gemacht.“ Ich erwischte mich immer öfter bei dem Gedanken, dass die Namensgebung an leblose Gegenstände wie Puppen und Teddys vielleicht einfach gar nicht aus den Kindern heraus entsteht, sondern eher so ein Erwachsenending ist, das man den Kindern aufoktroyiert, indem man immer wieder nachfragt oder etwas sagt wie: „Die Puppe muss doch einen Namen haben. Wie heißen denn eure Kaninchen? Haben die Hühner Namen?“ Ich kenne Erwachsene, die ihren Autos Namen geben. Dass mein Kind überhaupt keinen Drang verspürte, ihre Spielsachen Rosi oder wenigstens Ferdi und Schildi zu rufen, machte mich nicht direkt unruhig, es wunderte mich nur. Ich wollte aber auf keinen Fall, dass sie ihnen Namen gibt, nur weil man das so von ihr erwartete, weil „man das nunmal so macht“.

 

Bis heute haben die meisten Puppen und Kuscheltiere in diesem Haus keinen Namen. Aber seit einiger Zeit werden sie plötzlich in das Leben der Kinder aktiv einbezogen. Einige haben immer schonmal in ihren Betten geschlafen, abwechselnd, je nachdem, wer grad in der Nähe lag. Aber seit einiger Zeit sind es ganz bestimmte Tiere, ohne die man plötzlich meint, nicht mehr einschlafen zu können. Plötzlich wird ganz gezielt nach DEM Teddy und DEM Kaninchen gesucht, auch wenn hier bestimmt sechs Teddys und, naja, also wenigstens zwei weitere Nagetiere mit Schlappohren wohnen.

Fast unbemerkt ist es also auch in diesem Haus passiert, das ganz bestimmte Spielsachen einen festen Platz im Herzen der Kinder eingenommen haben. Sie beginnen, eine Beziehung zueinander aufzubauen, in der die Kinder ihre Gefühle, Ängste und Bedürfnisse auf ihre treuen Kuschelbegleiter übertragen. Denn, seien wir mal ehrlich: Dass Spielzeuge eigene Gefühle und Bedürfnisse haben, ist doch nur eine Phantasie der Kinder, oder?

Im vorliegenden Buch der Woche sind sich die Erwachsenen anfangs jedenfalls ganz sicher: Spielzeuge können nicht sprechen und Gefühle haben sie schon gar nicht. Miria und Karabum aber lehren uns alle etwas anderes, etwas, das wir, wie der Kaufhausdirektor, früher einmal wussten, aber einfach vergessen haben: Spielzeuge können sehr wohl sprechen. Aber sie sprechen nur mit Kindern. Das ist schließlich oberstes Puppengebot!

Kurzrezension

Jeder wünscht sich eine Familie. Nicht nur Menschenkinder – nein, auch die Puppen und sogar die Räuber sind glücklich, wenn sie eine Puppenmutter oder einen Puppenvater gefunden haben. Miria und Räuber Karabum haben Glück: Sie finden gleich beides, Vater und Mutter. Wenn da nur nicht die Sache mit dem Geld wäre:

Eine teure Puppe fristet ein trauriges Dasein im Kaufhausregal, denn weil sie so teuer ist, kaufen keine Eltern oder Großeltern die Puppe für ihr Kind oder Enkelkind. Dabei wünscht die Puppe sich nichts sehnlicher, als endlich eine Puppenmutter zu bekommen, bei der sie leben kann.

Ein netter Räuber schlägt ihr vor, ihr Preisschild gegen ein billigeres einzutauschen. Das hätte klappen können, wenn nicht der übereifrige Verkäufer aus der Spielzeugabteilung den Schwindel entdeckt hätte. Nacht für Nacht probiert die Puppe es erneut: Sie tauscht ihr Preisschild aus und stellt sich zu den billigen Puppen. Bis der Verkäufer zu einem drastischen Mittel greift: Er kettet sie an. Ihr Räuberfreund wurde inzwischen verkauft und ein neuer, mindestens ebenso netter Räuber sitzt nun neben ihr im Regal. Als die Halbwaise Anita die Puppe und den Räuber kennenlernt, beschließt sie, zu sparen, um beide kaufen zu können. Endlich hat Miria eine Puppenmutter, die ihr und dem Räuber sogar Namen gibt.

Miria und Karabum überlegen sich zusammen mit Anita und Philipp, der auch Halbwaise ist und den Spielsachen helfen möchte, einen Plan, wie sie das Geld zusammensammeln können, um die Puppe und den Räuber zu kaufen. Die Kinder verstehen sich auf Anhieb gut und fühlen sich wie Geschwister. So ist es nur eine Frage von Schicksal, Glück und Phantasie, dass Anitas Papa und Philipps Mama sich auch sympathisch finden, als sie sich am Spielzeugregal begegnen.

Blendet man pädagogisch rückständige Begriffe wie „Puppenhölle“ und „brav sein“ aus, so könnte das Buch aus den Siebzigern notwendiger nicht sein, als in der heutigen Zeit, in der Phantasie, erfüllte Kinderwünsche und Familienglück rar geworden zu sein scheinen. Die Geschichte der teuren Puppe, die nur mit Kindern sprechen darf, läutert nicht nur den Verkäufer und den Kaufhausdirektor, sondern lässt auch Erwachsene im Jahr 2016 innehalten und sich zurückerinnern an die teilweise ausgefransten und abgewetzten, oft wenig schönen Spielsachen, zu denen wir als Kinder eine besondere Bindung aufgebaut hatten. Spielsachen, die vielleicht sogar noch irgendwo in einer Schublade oder Dachbodenkiste liegen und darauf warten, dass wir noch einmal mit ihnen reden – wenn uns denn ihre Namen noch einfallen.

Für Kinder im Grundschulalter ist das Buch eine tolle Selbstlektüre. Wenn man es jüngeren Kindern vorliest, bietet sich an, dies etappenweise zu tun. Die Kapitel geben dafür eine gute Orientierungshilfe.

Altersempfehlung: 5-8 Jahre
Vorlesezeit: Kapitel à 2-3 Minuten

Daten zum Buch „Miria und Räuber Karabum“

Titel: Miria und Räuber Karabum
Autor: Dimiter Inkiow
Verlag: Erika Klopp
Jahr/Auflage: 1974

ISBN: 378-1708802

Miria und Räuber Karabum

TitelwahlBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt10
Titelwahl10
Aufmachung10Hardcover
ausgesprochen ungewöhnliches Buchformat
Cover in einem satten Grün zeigt beide Hauptfiguren
Im Buch begleiten liebevolle und lustige Bleistift-/Kohlezeichnungen die Kapitel
Text/Sprache10Die Geschichte beginnt märchenhaft mit "Es war einmal" und der Text ist in sinnvolle, kurze Kapitel unterteilt worden.
Inhalt10Eine besonders teure Puppe wartet in der Spielzeugabteilung eines Kaufhauses darauf, endlich von einem Kind gekauft zu werden und dadurch eine Puppenmama zu bekommen. Doch alle erschrecken sich, wenn sie ihren Preis sehen. Ein netter Räuber wird neben sie gesetzt und schmiedet einen Plan mit ihr, wie sie sich billiger machen oder fliehen könnte. Doch dann wird der Räuber verkauft. Sein Nachfolger möchte der Puppe ebenfalls helfen. Mehr noch, die beiden verstehen sich so gut, dass sie gerne zusammen verkauft werden möchten. Doch für diesen Plan brauchen sie Hilfe. Wie gut, dass Puppen mit Kindern sprechen können. So finden sich gleich eine nette Puppenmama und ein Puppenpapa für die Puppe und den Räuber, die alles daran setzen, das Geld für den Kauf der beiden Spielzeuge zusammenzubekommen. Und nicht nur für die Kinder und Miria und Karabum geht die Geschichte gut aus - auch der einst so böse Verkäufer und der Direktor des Kaufhauses entdecken ihr Herz und ganz nebenbei verkuppeln die beiden Halbwaisenkinder noch ihre Eltern miteinander.
Pädagogische Themen10Familie
Freundschaft
Hilfe
Phantasie
Liebe
Einsamkeit
Pädagogischer Wert9Diese Geschichte läutert auf phantastische Weise marktorientierte Verkäufer und führt zusammen, was zusammengehört: Kinder, Puppen, Räuber und Eltern. Auch wenn Begriffe wie "brav sein" daran erinnern, dass das Buch aus einer Zeit mit anderen Erziehungsweisen stammt, so lassen sich doch die Hoffnungen, Wünsche und Träume der Kinder auch heute noch nachempfinden.
Schlüssigkeit/Logik-
Kreativität10