Aus Afrika fliehen seit Jahren Menschen, die sich ein besseres Leben in Europa erhoffen. Unter ihnen sind viele Kinder, die sich weder das Wann, noch das Wie und schon gar nicht das Warum aussuchen können. Die meisten von uns begegnen diesen Kindern erst, wenn sie es „geschafft haben“ und mit unseren Kindern in den Kindergarten oder in die Schule gehen dürfen. Aber was hinter ihnen liegt, das können wir oft nur erahnen.
Kurzrezension
Gottfried, der Turborabe ist mit Düsenmotorantrieb auf dem Weg in den Urlaub. Sommer, Strand und langbeinige Flamingomädchen erfüllen seine Gedanken, als sein Motor plötzlich merkwürdige Geräusche macht. Selbst schuld, Gottfried, du hast die Wartung ausgelassen. Nun stürzt der rasante Flugakrobat unaufhaltsam ab, denn mit den kurzen Flügeln, dem dicken Bauch und dem mangelnden Training – ganz zu schweigen von seinem gewichtigen Urlaubsgepäck – ist es ihm nicht möglich, ohne Motor bis ans Land zu fliegen.
Gottfried hat Glück und kann auf einem im Mittelmeer treibenden Rettungsring notlanden. An diesen Ring klammert sich ein Junge namens Enno. Er hat auf der Flucht vor Hunger in Afrika seine Familie verloren. Für Gottfried ist es Ehrensache, Enno zu helfen. Er bringt erst einmal sein gesamtes Urlaubsgepäck zum Einsatz: Die Luftmatratze wird aufgepustet und ersetzt den Rettungsring. Dann wird mit Sonnenschirm, etwas Schnur und Gottfrieds Proviantregenwürmern geangelt, um eine Mahlzeit für die beiden neuen Freunde zu fangen.
Gesättigt macht sich Enno, der viel technisches Wissen und Geschick hat, an die Reparatur des Turbodüsenmotors. Endlich wieder flugtauglich, schnappt sich Gottfried Gepäck und Flüchtlingskind und steuert den spanischen Sandstrand an.
Kaum gelandet, möchte sich Gottfried gerne eine Siesta mit Eis und Flamingomädchen gönnen. Enno aber hat nur Gedanken für seine Familie, die er unbedingt wiederfinden möchte. Doch noch bevor die beiden wieder starten können, werden sie von der Polizei aufgegriffen und in ein Flüchtlingsheim verfrachtet. Dort herrscht ein rauer Umgangston. Der unsympathische Heimleiter knöpft den beiden gleich den Motor ab und schenkt ihn seinem noch unsympathischeren Sohn Pedro.
Enno und Gottfried fassen einen komplizierten Fluchtplan: Zuerst pflücken sie einen Haufen Orangen. Dann erzählen sie Pedro, dass sie einen ganz leckeren Smoothie mixen könnten, wenn er ihnen nur mal ganz kurz den Motor leihen würde.
Der Plan gelingt, Pedro bekommt einen Regenwurm-Orangen-Cocktail serviert. Und während er sich verzweifelt am Boden windet, waschen die beiden Freunde den Motor aus und fliehen, nicht ohne dem Heimleiter noch seine Mütze zu stiebitzen. Ob Enno und Gottfried Ennos Familie wiederfinden, bleibt aber offen.
Das Buch hat einige Schwächen, sei es in der Logik, sei es auch in der Verwendung zweifelhafter Klischees: Die spanischen Polizisten, die verspiegelte Sonnenbrillen tragen und ebenso böse scheinen, wie der Heimleiter und sein Sohn zum Beispiel. Die Flamingomädchen, die entgegen aller feministischer Errungenschaften in Europa doch nur dafür da sind, dem faulen Raben am Strand die Füße zu kitzeln, vermitteln den kleinen Lesern kein pädagogisch wertvolles Motiv. Und dann ist da noch das auch in der Politik gerne herangezogene Beispiel des hochgebildeten, in unseren Landen dringend benötigten Ingenieurs auf der Flucht. Als Vorleser fragt man sich auch, warum das afrikanische Flüchtlingskind einen typisch friesischen Namen trägt.
Da dies aber ein Buch für Kinder ist, mögen die Kritikpunkte hauptsächlich aus Erwachsenensicht angebracht sein. Viel mehr zählen aber der Mut und Wille, sich in einem Kinderbuch überhaupt dem Thema Flucht zu widmen. Dass dieses gegenwärtig hochaktuelle Thema bislang viel zu wenig Berücksichtigung gefunden hat, zeigt ein einfacher Blick in die aktuelle Spiegel-Bestsellerliste für Kinder- und Jugendbücher, sowohl im Sach- als auch im Bilderbuchbereich. Hier scheint es, als beträfe das Thema Flucht unsere Kinder überhaupt nicht.
Christoph Fromm greift das Thema Flucht direkt dort auf, wo es geschieht: Im Mittelmeer. Mit seinem Protagonisten Gottfried wählt er eine Figur, die lustiges Tier, Superheld und hilfsbereiter treuer Freund in einem darstellt und somit trotz seiner Vorliebe für Flamingomädchen, Siesta und Regenwürmer Kinder in ihren Bann ziehen kann. Die Figur des Enno wird nicht auf die Opferrolle reduziert, sondern stemmt sich mit Intelligenz, Mut und auch kindlichem Übermut den Herausforderungen seiner gefährlichen Reise entgegen.
Der böse Flüchtlingsheimleiter und sein noch garstigerer Sohn weisen vor allem darauf hin, wie schwierig die Zustände in einem Auffanglager sein können – egal, ob es jetzt die Einheimischen sind, die den Neuankömmlingen mit Argwohn und Abneigung begegnen, oder andere, ebenfalls hier untergebrachte Flüchtlinge, die sich gegenseitig das Leben schwer machen. Dass sich in solchen Lagern Hierarchien bilden, Unterdrückung, Ungerechtigkeiten und harte Machtkämpfe oft den Alltag bestimmen, ist bittere Wahrheit.
Das Bild des wild umherspringenden und den Motor knallen lassenden Pedro, der mit Freuden den traumatisierten Kindern im Flüchtlingsheim Angst einjagt, ist Sinnbild für häufige Dummheit und Ignoranz gegenüber dem Leid anderer.
Ein bisschen stört, dass Enno und Gottfried bei ihrem Fluchtplan so „rachsüchtig“ sind und Pedro mit dem Regenwurmcocktail eins auswischen. Schadenfreude passt eigentlich nicht so in das Bild der beiden Freunde.
Aber ungeachtet aller Kritikpunkte überwiegen hier die Ideen und der Humor, vor allem aber der Versuch, all diese bitterernsten Dinge kindgerecht anzusprechen und zum Nachdenken anzuregen über die Sorgen und Nöte der Flüchtlingskinder auf ihrer langen, schweren Reise.
Daher eignet sich dieses Buch durchaus auch für den Schulunterricht, bietet es doch Anregung, zum einen über Flucht, Armut und Ängste, zum anderen aber auch über gruppendynamische Symptome wie Mobbing und Machtmissbrauch zu sprechen. Und darüber, wie wichtig es für jedes Kind ist, einen Freund zu finden, dem es vertrauen kann – und der auch mal seinen Strandurlaub für ihn sausen lässt.
Die Zeichnungen sind ebenso ungewöhnlich, wie das Format und die Geschichte. Ohne zu grauenhafte Realitäten zu zeigen, werden diese doch angedeutet. Die Boshaftigkeit der Antagonisten ist in jeder Linie greifbar. Vier textlose doppelseitige Bilder an entscheidenden Stellen der Geschichte laden zum Innehalten, Sackenlassen und längerem Betrachten ein. Auch ohne Sprechblasen muten die Bilder und die Lautsprache (puff, knall, puff, rempfhempfempf) comicähnlich an, was der Zielgruppe gefällt und den recht langen Text auflockert.
Altersempfehlung: 5-7 Jahre
Vorlesezeit: 15-20 Minuten
Daten zum Buch „Gottfried, der Turborabe – Ennos gefährliche Reise“
Titel: Gottfried, der Turborabe – Ennos gefährliche Reise
Autor: Finja Skadi Vollbrecht, Christoph Fromm
Verlag: Primero
Jahr/Auflage: 2017
ISBN: 978-3981845426
Gottfried, der Turborabe - Ennos gefährliche Reise
Kriterium | Bewertung (1-10) | Begründung |
---|---|---|
Punkte gesamt | 9 | |
Titelwahl | 10 | |
Aufmachung | 10 | Hardcover Das Buch kommt im Querformat und etwas größer als DinA5 daher. Auch die ungewöhnlichen Zeichnungen lassen bereits erkennen, dass es sich hier nicht um ein gewöhnliches Kinderbuch handelt. |
Text/Sprache | 8 | Der Text ist stellenweise etwas zu anspruchsvoll für die Zielgruppe der Leseanfänger. Das liegt an Wörtern wie Turbodüsenmotor, Regenwurmcocktail, Senkrechtsstarter, Sonnenschirmstange, Kunstflugakrobaten und nicht zuletzt Smoothie. Den Verlagsnamen immer wieder in den Text einfließen zu lassen – kann man machen, aber auch lassen. |
Inhalt | 9 | Die beiden Titelgebenden Protagonisten begegnen sich zufällig. Gottfried ist auf dem Weg in den Urlaub, Enno ist auf der Flucht gekentert und sucht seine Familie. Auch wenn der faule Rabe zwischendurch zu einer Siesta tendiert, ist es für ihn selbstverständlich, Enno auf seiner Reise zu begleiten um ihm zu helfen. Doch ihre Suche wird jäh gestoppt und sie landen in einem Flüchtlingsheim, in dem ein böser Chef samt Sohn die Regentschaft übernommen hat. ZUm Glück gelingt ihnen eine spektakuläre Flucht. |
Pädagogische Themen | 10 | Armut Not Flucht Familie Angst Freundschaft Mut Phantasie Talent Vorurteile |
Pädagogischer Wert | 9 | Viele wichtige und aktuelle Probleme werden hier angesprochen. Der Leser erkennt, wie wichtig Unvoreingenommenheit, Mut und Freundschaft sind. Allerdings sind auch die Protagonisten nicht vor Rache und Schadenfreude gefeit. |
Schlüssigkeit/Logik | 8 | An einigen Stellen hapert es doch schon etwas mit der Logik. Der Fisch wird offenbar roh an Bord der Luftmatratze verspeist und warum ein Rabe ins Flüchtlingslager gebracht wird, ist auch nicht schlüssig. Und woher wissen die beiden so schnell, wo sie einen Wasserschlauch zum säubern des Motors finden? Und wieso sagt Enno "die armen Würmer"? Ob sie jetzt vom bösen Pedro oder von Gottfried gegessen werden, macht für die Würmer ja keinen Unterschied. |
Kreativität | 10 |