Oje, ein Buch!

Oje, ein Buch! Lorenz Pauli, Miriam Zedelius

Norddeutschland, sechs Uhr morgens. Der Kaffee ist noch nicht aufgesetzt und von Brötchen keine Spur, doch der Tag beginnt unweigerlich: Bettdeckengeraschel klingt herüber, mit einem Wumppwumpp landen zwei Paar Kinderfüße auf dem Dielenboden, stolpern über den Inhalt des Kaufmannsladens, rappeln sich wieder auf, drängeln sich gleichzeitig durch die Tür und nähern sich triptriptrip, wumpp, trippeltrip über den Flur, eine Stufe hinunter dem elterlichen Schlafzimmer. Noch bevor sich meine Augen ganz geöffnet haben, spüre ich schon den Zug an meiner Bettdecke, die kleinen Finger, die sich in mein Knie krallen, um sich hochzuziehen, und ein schweres Stück rechteckige dicke Pappe landet auf meiner Brust und piekt in mein Kinn: „Oje“, seufze ich. „Ein Buch!“

„Kannst du mir das vorlesen?“ ruft die Große, und der Lütte stimmt ein: „Jaaaa! Vorleeeesääään!“

Einerseits stolz, dass sie nicht wie so oft direkt nach dem Kikaninchen fragen, andererseits kaum fähig, meine alterweitsichtigen Augen auf das Buch zu richten, versuche ich, eine bequeme Haltung einzunehmen, rechts und links kuscheln sich die beiden gespannten Kinder an, und los geht die erste Vorleseetappe des Tages.

Wie gut, dass Wochenende ist. In der Woche kommen unsere Vorlesezeiten in letzter Zeit viel zu kurz. Da hetzen wir morgens zum Kindergarten, dann drängen Einkauf, Haushalt, Büroarbeit – und jetzt im Sommer auch noch die Gartenarbeit. Dazwischen erfolgt die mehrfache Verköstigung der eigenen und oft auch Spielbesuchskinder, und schon ist der Tag um. Als Gutenachtlektüre hält mein Kind mir dann einen Stapel Bücher hin, den wir schon ewig nicht mehr gelesen haben, und streitet mit Kind Nummer zwei um das Vorrecht, die heutigen Geschichten auszusuchen.

 

In diesem Haus werden Bücher von Großen wie Kleinen geliebt und geschätzt. Das sage ich nicht ohne Stolz, denn der „Dämon Digitalisierung“ scheint durchaus in der Lage zu sein, das vielerorts zu ändern. Tablet, Smartphone & Co. sind allgegenwärtig in den Händen und Taschen der Eltern dabei, als „Medienkompetenz“ versteht so mancher es, wenn schon ein zweijähriges Kind seine Peppa-Videos selbst auf youtube anwählt. Ja, ich kenne sogar Menschen, die dem gedruckten Buch ganz seine Daseinsberechtigung absprechen, bieten doch digitalisierte Büchereien eine viel größere und schnellere Verfügbarkeit, sowohl für die Unterhaltungslektüre, als auch für wissenschaftliche Studien. Man muss nicht mehr lesen, nein, nur noch filtern und scrollen.

Den Mehrwert der allgemeinen Zugänglichkeit und schnellen Verfügbarkeit von Büchern im Netz will ich hier gar nicht infrage stellen. Doch wenn schon die Kleinsten öfter wischen als blättern, dann sorge ich mich: Bin ich als lesender und vorlesender Mensch mit gedruckten Büchern aus Pappe oder Papier langsam aber sicher Teil eine Minderheit? Dieses Bild, Eltern oder Großeltern im Sessel, vor ihnen die gebannt lauschende Kinder- oder Enkelschar – sollte es wirklich der Vergangenheit angehören? Schicken wir unseren Leseanfängern zur Einschulung künftig nur noch einen Link zum heruntergeladenen Erstlesebuch zu?

Allein die Vorstellung, dass die nächste oder übernächste Generation so etwas wie ein Buch gar nicht mehr nutzen könnte, nicht mehr weiß, wie man es verwendet, weil das Blatt Papier, die niedergeschriebene Geschichte gar nicht mehr im normalen Haushalt gebraucht wird, scheint abstrus – und auch ein bisschen gruselig. Nicht nur ewig Gestrige wie ich würden wohl die wertvollen Momente vermissen, in denen sich Vorleser und Leser gemeinsam auf eine Geschichte einlassen, Seite um Seite das Abenteuer entdecken und bis zur letzten Seite dem guten Ausgang jeder Monstergeschichte entgegenfiebern. Oje.

 

Kurzrezension

Juri ist irritiert: Erst packt Frau Asperilla einfach das Geschenk aus, dass er von Herrn Schnippel bekommen hat, und dann weiß sie nicht einmal, was sie damit anfangen soll, denn es ist – oje – ein Buch!

Weiß Frau Asperilla wirklich nicht, wie das geht mit dem Vorlesen? Buch aufschlagen und dann Vorne, links oben anfangen? Und denkt Frau Asperilla wirklich, dass man ein Klopfen an der Türe hört, wenn man liest, wie jemand anklopft? Das ist doch ein Buch, eine Geschichte! Das muss man sich vorstellen, erklärt Juri ihr.

Seite für Seite lernt Frau Asperilla, dass Umblättern nichts mit Wischen und Touchscreen zu tun hat und dass die Geschichte so, wie sie im Buch ist, bleibt, weil man keine Auswahlfunktion hat, keinen Knopf, keine Emoticons, um etwas zu verändern oder zu kommentieren. Die Geschichte, die im Buch steht, ist genau so, wie sie ist. Erst durch das Vorlesen, Seite für Seite, erfahren Juri und Frau Asperilla, was passiert. Und es passiert eine ganze Menge, Unvorstellbares, Unerwartetes.

Als Frau Asperilla versucht, ein winziges Detail in einem Bild zu vergrößern, indem sie die Finger drauflegt und auseinanderzieht, wird auch dem digitalsten Menschen klar, wie viel Zeit er vor Bildschirmen und wie wenig mit Büchern verbringt. Diese Ironie verstehen auch meine beiden kleinen großen Kinder – und amüsieren sich immer wieder köstlich über Juri und Frau Asperilla.

Es ist ein Plädoyer für das Vorlesen, ein Inbegriff dessen, was diesen Blog antreibt und bewegt. „Oje, ein Buch!“ ist eines der pointiertesten, witzigsten und gleichzeitig ernsthaftesten Bücher, das uns seit langem erreicht hat, und somit ganz klar Buch der Woche.

Inspirierend, erfrischend, anders und absolut empfehlenswert!

Altersempfehlung: 4-6 Jahre
Lesezeit/Seitenzahl: 10 Minuten

Daten zum Buch „Oje, ein Buch!“

Titel: Oje, ein Buch!
Autor: Lorenz Pauli, Miriam Zedelius
Verlag: atlantis/Orell Füssli
Jahr/Auflage: 2018/1.

ISBN: 978-3715207421

Oje, ein Buch!

TitelwahlBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt10
Titelwahl10
Aufmachung10Die Zeichnungen sind witzig, ungewöhnlich und stammen teilweise aus Kinderhänden. Das Buch im Buch, das Fußballspiel im TV, der verkokelte dreiköpfige Drache und die Geschichte, die die beiden Vögel zu Frau Asperillas Füßen erzählen - jedes Bild überzeugt durch seine Details und Überraschungen.
Text/Sprache10Die Sprache ist so authentisch, dass der Funke sofort überspringt. Als Vorleser schmunzelt man sich von Satz zu Satz.
Inhalt10Juri bekommt ein Buch geschenkt. Da Frau Asperilla das Geschenk versehentlich aufgerissen hat, soll sie ihm das Buch nun vorlesen. Aber das hat Frau Asperilla offenbar noch nicht sehr oft gemacht. Unbeholfen gibt sie dem Buch eine Chance und beschert sich und Juri damit ein spannendes Leseabenteuer.
Pädagogische Themen10Lesen
Vorlesen
gemeinsame Zeit
Mut, sich auf das Unbekannte einzulassen
Pädagogischer Wert10Die oft vergessene Bedeutung gemeinsamer Vorlesezeit und die abstrusen Auswirkungen von allgegenwärtigen Touchscreens wird hier jedem mit Rotstift unter die Nase gerieben. Besinnt Euch: Lest Euren Kindern vor!
Schlüssigkeit/Logik-Frau Asperilla weiß nicht, wie ein Buch funktioniert. Logisch, im Buch geht sowas!
Kreativität10