Der Grüffelo

Der Grüffelo_Axel Scheffler_Julia Donaldson

Der Grüffelo, Axel Scheffler, Julia Donaldson

Wenn ein Kinderbuch wie „Der Grüffelo“ von Axel Scheffler und Julia Donaldson zum Bestseller wird und in mehreren Sprachen übersetzt um die Welt wandert, dann greift man als vorlesender Elternteil im Buchladen oder in der Bücherei gerne zu.

Kurzrezension

Dabei verlässt man sich schon einmal blind auf die Altersempfehlungen von Verlag und Rezensenten diverser Onlineshops. Wie falsch man damit liegen kann, zeigte mir mein Kind sofort, indem es das Buch weder ausleihen noch anschauen wollte. Ich hab es schließlich zu beidem überredet und mich hinterher dafür beschämt entschuldigt. Weder gefielen meinem Kind die Reime, noch die Bilder und schon gar nicht die Geschichte von dem Monster, das alle Tiere fressen möchte und so fürchterlich aussieht.

Warum aber ist dieses Buch dann unter Eltern und offenbar auch unter Kindern weltweit so beliebt? Meine Meinung hierzu steht noch nicht fest. Gewiss, der Grüffelo schneidet viele Themen an, die Kindern auf der Seele brennen können:

Was mach ich, wenn andere stärker sind als ich?

Gibt es Monster?

Ist es im Wald gefährlich?

Wie trete ich mutig den Stärkeren gegenüber?

Die Antworten hierzu sind in diesem Kinderbuch teils nicht klar, teils nicht zufriedenstellend gegeben. „Auf Stärke und Größe kommt es nicht an, mit Verstand und Tücke kann man seine (Fress-)Feinde überlisten“ – das beweist uns die Maus, indem sie Fuchs, Eule und Schlange von dem Grüffelo erzählt, mit dem sie angeblich eine Verabredung hat. Die Fressfeinde sind beeindruckt, gar ängstlich, und flüchten vor der erfundenen Monsterfigur.

Wie dumm von ihnen, denkt sich die Maus, und fühlt sich erhaben. Sie selbst schließlich hat den Grüffelo erfunden, natürlich glaubt sie deshalb selbst nicht an ihn. Wollten Fuchs, Eule und Schlange die Maus zunächst mit List in ihre Höhlen locken, um sie dort zu fressen, wird der Spieß hier umgedreht und sie fürchten nun selbst, gefressen zu werden.

Soweit, so klar. Dann folgt die Wende in der Geschichte, die so gar nicht passt und deren Intention mir einfach nicht klar wird: Die Maus begegnet selbst dem Grüffelo. Stellen sich also gleich mehrere Fragen:

Spielt sich diese Begegnung allein in der Phantasie der Maus ab, soll heißen sie hat sich den Grüffelo so gut ausgemalt, dass er lebendig wird? Wenn ja, warum ist er dann ein Fressfeind der Maus, warum nicht ihr Freund?

Ist die Begegnung wirklich und die Maus hat sich zufällig ein Monster ausgemalt, dass es so auch gibt? „Gefahren, die man sich ausdenkt, können wirklich eintreten“ – ist das die Moral? „Selbst wenn das Schlimmstmögliche eintritt, wenn du dem größten Monster des Waldes gegenüber stehst, bewahre Ruhe und nutze deinen Verstand?“

Mut und Angst spielen sich im Kopf ab und können daher durch den Verstand beherrscht werden, das zeigt die Maus, als sie leibhaftig dem Grüffelo gegenübersteht. Sie hat Angst, doch sogleich schaltet sie ihren Verstand ein und überlistet das Monster, so wie sie zuvor die anderen Tiere ausgetrickst hat.

Schön. Aber etwas komplex, so eine Moral, für Vierjährige, denke ich.

Die Zeichnungen sind schön, der Wald wirkt idyllisch, der Grüffelo auf den meisten Bildern eher bemitleidenswert naiv, statt angsteinflößend. Das mag gewollt sein, ist vielleicht gar die Botschaft: „Sieh genau hin, das Böse ist eigentlich dümmlich.“ Trotzdem irritieren die Bilder. Hinzu kommt die Verpackung der Geschichte in Reimen. Nun lesen sich diese im englischen Original zwar wesentlich runder, als in der sicher mühsam erarbeiteten deutschen Übersetzung, aber dennoch sind Reime für Kinder normalerweise Inbegriff fröhlicher Spiele und lustiger Geschichten. Den Grüffelo lustig zu finden, das hätte funktionieren können, wenn die Geschichte nach der Begegnung mit der Schlange zu Ende gewesen wäre. Aber in dem Moment, in dem der Grüffelo die Maus bedroht, hallo? Wo ist da der Witz geblieben?

Okay, die Maus instrumentalisiert nun die Angst von Eule, Fuchs und Schlange, um dem Grüffelo stark gegenüber treten zu können – aber erneut: Ist diese Kehrtwende in der Geschichte nicht ein bisschen too much für Vierjährige? Ironie schön und gut, aber beim Vorlesen durchgehend das gelesene Wort relativieren oder erklären zu müssen, kann die Freude am Vorlesen ganz schön dämmen. Kleine Kinder sehen beim Vorlesen in erster Linie, dass es hier ein ausgedachtes Monster

  1. plötzlich gibt und dass es
  2. plötzlich nicht wie erwartet der Freund der Maus ist, sondern sie fressen will.

Selbst dem imaginären Freund kann die kleine Maus nicht vertrauen, einzig ihr Verstand hilft ihr. Das ist traurig für eine Altersgruppe, die gerade erst beginnt, erste Freundschaften aufzubauen. Auch wenn es am Ende gut ausgeht, bleibt die kleine Maus doch allein im Wald zurück. Wenn man erst einmal weiß, dass die Maus am Ende ein zwar einsamer, aber auf jeden Fall triumphierender Sieger ist, liest sich das Buch beim zweiten und dritten Mal vielleicht tatsächlich etwas mutmachender und fröhlicher. Aber dazu wird es bei uns vorerst nicht kommen, denn das Unwohlsein beim ersten Vorlesen wirkt bei meinem Kind noch nach.

Alles in allem muss man als Elternteil einer Wahrheit ins Gesicht blicken: Auch wir haben als Kinder Gruselgeschichten gelesen, erzählt bekommen und weitererzählt. Manche Kinder mögen den Gruselfaktor, manche nicht. Viele Kinder fürchten sich vor Monstern in Kleiderschränken, unter Betten oder im Wald. Andere haben ein Grundvertrauen, dass ihnen nichts passieren wird, glauben nicht an Monster oder überwinden ihre Angst.

Aber die Auseinandersetzung mit unkalkulierbaren Gefahren wie dem plötzlich lebendig gewordenen Phantasiewesen, das man durch schnelles Einsetzen des Verstandes beherrschen kann – die muss wirklich noch nicht mit vier Jahren gemacht werden.

Ist „Der Grüffelo“ nun eine Gruselgeschichte oder eine Mutmachgeschichte?

Macht er Spaß oder macht er Angst?

Sicher ist das auch sehr stark vom einzelnen Kind abhängig und davon, wie und wann es den Grüffelo kennenlernt. Mein Kind und ich haben am Ende der Geschichte beschlossen, dass das Buch (noch) nichts für uns ist. Ich steh sowieso nicht so auf arg konstruierte Reime. Und mein Kind steht nicht auf Fressfeinde. Vielleicht in ein paar Jahren.

Altersempfehlung: 6-8 Jahre
Vorlesezeit: 8 Minuten

Daten zum Buch „Der Grüffelo“

Titel: Der Grüffelo
Autor: Axel Scheffler, Julia Donaldson
Verlag: Beltz&Gelberg
Jahr/Auflage: 1999

ISBN: 978-3407792303

Der Grüffelo

TitelwahlBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt8
Titelwahl10
Aufmachung9Hardcover
DinA4
sehr authentische und lebendige Zeichnungen des Waldes und der Tiere. Der Grüffelo variiert allerdings zwischen gefährlich und gruselig aussehend und nett und etwas dümmlich dreinblickend.
Text/Sprache8Liest man den englischen Originaltext dagegen, klingen die deutschen Reime arg konstruiert. Den Rhythmus muss man beim Vorlesen etwas üben. Der fröhliche Reimklang passt allerdings nicht zum dramatischen Verlauf der Geschichte.
Inhalt8Eine kleine Maus begegnet im Wald einer Menge von Fressfeinden. Sie denkt sich einen Beschützer aus, ein gruseliges Monstertier, bei dem angeblich alle ihre Fressfeinde ganz oben auf dem Speiseplan stehen: den Grüffelo. Der Trick funktioniert, Fuchs, Eule und Schlange nehmen Reißaus, weil sie den Monsterfreund der Maus fürchten. Doch plötzlich begegnet die Maus tatsächlich einem Grüffelo. Der ist genauso gruselig, wie sie ihn sich ausgemalt hat, und behauptet, Mäuse seien seine Lieblingsspeise. So muss die Maus trotz aller Furcht auch dem Monster eine Lüge auftischen und behaupten, alle Tiere des Waldes hätten Angst vor ihr. Zum Beweis geht sie mit dem Grüffelo durch den Wald und tatsächlich: Fuchs, Eule und Schlange nehmen erneut Reißaus, und zwar vor dem Anblick des Grüffelos. Der aber denkt, die Maus muss gefährlicher sein, als sie aussieht, und macht sich ebenfalls vom Acker.
Pädagogische Themen10Angst
Mut
Einfallsreichtum
List und Tücke
Pädagogischer Wert6Die Grundidee, dass die schwache Maus ihre starken Fressfeinde mit Mut und Tücke überlistet, ist ganz gut. Die Umsetzung allerdings ist sehr fragwürdig. Es ist ja weniger der Schutz, den der ausgedachte Grüffelo als ein Freund ihr bietet, als die Gefahr, die er für die anderen Waldtiere darstellt, welche als Fuchsspieß oder Schlangenpürree zu enden fürchten müssen. Der imaginäre Freund entpuppt sich letztlich auch nur als Fressfeind, der von der Maus überlistet werden muss. Insgesamt ist nicht klar, welche Botschaft hier vermittelt werden soll: "Lügen können Leben retten"? "Die eigene Lüge kann sich gegen einen selbst wenden?" Denn für "Mit Mut und Verstand kann man physische Schwächen ausgleichen" hätte eine andere Wendung der Geschichte besser gewirkt. Auch die Frage "Gibt es Monster?" wird hier nicht zufriedenstellend beantwortet und ist zumindest für die von Verlagsseite vorgeschlagene Altersgruppe nicht geeignet.
Schlüssigkeit/Logik5Es erschließt sich nicht, wieso der von der Maus erfundene Grüffelo plötzlich real wird.
Kreativität10