Krah!

Krah_Leo Timmers

Krah!, Leo Timmers

„Sooonst – sonst bist du nicht mehr meine Freundin!“ Zur Bekräftigung stampft mein Wutzwerg namens Kindergartenkind mit dem Fuß kräftig auf den Boden. Seit es im Kindergarten ist, hat es viele neue Freunde gefunden. Und seitdem höre ich plötzlich Sätze, die mit „Soooonst“ beginnen und mir nicht selten die Freundschaft aufkündigen, wann immer etwas nicht so läuft, wie mein Kind es sich gerade vorstellt.

Meine Antworten dazu variieren. Mal aus Belustigung, mal aus purer Ratlosigkeit sage ich Dinge wie: „Wie jetzt, nur weil du vor dem Mittagessen keine Chips mehr bekommst?“ oder „Das ist schade, aber dann ist das eben so“, „Und wer liest dir dann das neue Buch vor?“ oder schlicht: „Ja, nee, is klar.“ Meist sind meine Antworten nicht besonders pädagogisch wertvoll. Aber wenigstens sind sie immer authentisch.

Natürlich meint mein Kind das mit der Freundschaftsaufkündigung nicht so streng, wie es klingt. Beziehungsweise: Es meint es vielleicht sogar so streng, aber nur in dem Moment. Die eben noch gekündigte Freundschaft wird wenige Minuten später meist feierlich wiederbeschworen. Man kann Freundschaften auch für zehn Minuten aufkündigen, das hab ich von meinem Kind schnell gelernt.

Freundschaften knüpfen ist ein spannendes, schönes und schwieriges Feld zugleich. Spätestens wenn ein Kind in den Kindergarten kommt, beginnt es, sich zu den einen Kindern mehr, zu anderen weniger hingezogen zu fühlen. Mit manchen möchte es sich vergleichen und messen, mit anderen einfach spielen und Spaß haben. Wieder andere Kinder machen ihm Angst oder schrecken es ab.

Wahre Freundschaft muss auf Gegenseitigkeit beruhen und das ist das Schwierige daran. Manchmal möchte man mit jemandem befreundet sein, derjenige aber möchte das nicht, aus Angst, Vorurteil oder anders begründeter Abneigung. Nicht als Freund gewollt zu sein tut weh.

Am schwierigsten ist es, wenn man zu einer Gruppe dazugehören möchte, diese einen aber ausschließt, weil man zu klein, zu groß, zu dick, zu dünn, fußballerisch unbegabt oder auf irgendeine andere Weise eben einfach anders ist und nicht in die Gruppe zu passen scheint.

Das geht nicht nur Kindern so: Auch Erwachsene verfallen manchmal aus Einsamkeit oder Geltungssucht dem Bedürfnis, zu einer besonderen Gruppe dazugehören zu wollen. Manchmal verbiegen wir uns und geben vor, etwas Anderes zu sein, als wir sind, nur, damit wir von dieser bestimmten Gruppe akzeptiert werden. Wir beobachten die Gruppe, wollen so sein, wie die anderen, schauen uns Gesten und Verhaltensweisen ab, übernehmen Sprüche – manchmal gar ohne den Kontext zu kapieren. Und machen uns dabei zum Narren.

Dabei ist es gar nicht so wichtig, zu sein wie die anderen. Man muss den anderen nur seine eigenen positiven Seiten zeigen und versuchen, ihnen ihre Vorurteile zu nehmen. Dann akzeptieren sie das Anderssein oft von ganz alleine. So wie bei Krah, der Krähe. Im Kampf um die Gunst der kleinen bunten Vögel ist er anfangs sogar bereit, sich selbst zu verleugnen.

Kurzrezension

Krah ist ein sehr einsamer Krähenmann. Alle anderen Vögel fliegen immer einen weiten Bogen um ihn. Das macht ihn sehr traurig. Als er das fröhliche Gezwitscher von drei kleinen bunten Vögeln hört, trippelt er hin und lächelt freundlich. Er möchte dazugehören, zu der lustigen Runde.

Doch Meise, Sittich und Fink erschrecken vor Krahs dunklem großen Erscheinungsbild. Sie rennen weg und zwitschern lautstark darüber, wie gruselig dunkel die Krähe ist. „Bestimmt ein böser Räuber.“ Da sind sich die kleinen Piepmätze sicher.

Krah ist ganz traurig und möchte kein schwarzes Gefieder mehr haben. Da hat er eine Idee: Er holt sich jede Menge Farbe und färbt sein Gefieder, bis er aussieht wie eine Meise, dann wie ein Sittich und schließlich wie der Fink. Doch statt Krah nun als Gleichen unter Gleichen anzunehmen, macht sich die Gruppe kleiner Vögel nun jedes Mal erst recht aus dem Staub.

Die Krähe weint ganz bitterlich. Die vielen vergossenen Krähentränen waschen die bunte Farbe aus Krahs Gefieder wieder heraus. Da kommen plötzlich die drei kleinen bunten Vögel zurück. Sie denken, dass Krah die bunten Riesenvögel verscheucht hat und feiern ihn als starken Beschützer.

Und das ist das Manko an der sonst so liebevollen, empathischen, trotz Minimalismus charaktervoll gezeichneten Geschichte: Krah lässt sich als Retter feiern und ist stolz und glücklich, nun von den kleinen Vögeln als Freund angenommen worden zu sein. Und er sagt ihnen nicht, was es tatsächlich mit der Riesenmeise, dem gigantischen Sittich und dem Megafink auf sich hat. Zumindest jetzt noch nicht. „Das konnte er später immer noch tun“, ist das Fazit, mit dem das Buch endet.

Die Geschichte von Krah ist niedlich, witzig, wunderbar gezeichnet und eine immer willkommene Stimme gegen Vorurteile. Leider hapert es am Ende an der perfekten Moral: Krah wird letztlich nur durch einen nicht aufgeklärten Irrtum zum Freund der kleinen Vögel und diese haben zwar gelernt, dass Krah gar nicht schrecklich böse ist, sondern ein lieber Vogel, aber ihre Vorurteile gegen Krah wurden im Grunde nur von ihrer Angst und ihren Vorurteilen gegenüber den drei vermeintlichen Riesenvögeln abgelöst.

Soweit aus pädagogischer Sicht. Aus Sicht meines Kindes aber heißt es: „Nochmal vorlesen, bitte.“ Und das nun schon seit etlichen Tagen. Denn dass die Krähe am Ende nicht mehr alleine ist, sondern Freunde gefunden hat, zählt für mein Kind weit mehr, als Krahs Notlüge.

Altersempfehlung: 2-6 Jahre
Vorlesezeit: 5 Minuten

Daten zum Buch „Krah!“

Titel: Krah!
Autor: Leo Timmers
Verlag: aracari
Jahr/Auflage: 2014/1.

ISBN: 978-3905945492

Krah!

TitelwahlBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt10
Titelwahl10
Aufmachung10Hardcover
die Bilder sind minimalistisch gehalten
dennoch oder gerade deswegen sind die Zeichnungen sehr ausdrucksstark
die Konzentration liegt auf den vier Vögeln
Text/Sprache9Sehr knapp gehalten
man erklärt beim Vorlesen automatisch, was geschieht, da der Text sich auf weniges beschränkt
Dadurch eignet sich das Buch aber sehr gut für Erstleser.
Inhalt10Eine Krähe namens Krah ist sehr einsam. Kein Vogel will etwas mit Krah zu tun haben. Als er drei kleine bunte Vögel sieht und dazugehören möchte, laufen diese davon und schildern sich ihre Ängste und Vorurteile: Herr Krähe ist schwarz, er ist bestimmt ein Räuber. Also beschließt Krah, sein Federkleid zu färben, um auszusehen wie Meise, Sittich oder Fink. Doch da er zwar seine Farbe, nicht aber seine mächtig große Erscheinung ändern kann, fürchten sich die drei Piepmätze noch mehr vor der verkleideten Krähe, als zuvor vor der schwarzen. Meise, Sittich und Fink denken, dass Krah die drei sonderbaren Riesenvögel verjagt hat und bejubeln ihn. So wird zwar die Krähe nicht wegen ihrer Integrationsversuche integriert, wohl aber dann doch für das, was sie ist: Ein großer schwarzer Vogel.
Pädagogische Themen10Anders sein
allein sein
dazugehören wollen
Angst
Lügen
Pädagogischer Wert8Krah wird auf Basis einer Lüge in den Freundeskreis der kleinen bunten Vögel aufgenommen. Auch die Überlegung, dass er ihnen später noch die Wahrheit sagen kann, ändert daran nichts.
Schlüssigkeit/Logik-
Kreativität10