Der Bücherschnapp – Jeder braucht eine Gutenachtgeschichte

Der Bücherschnapp, Helen Docherty, Thomas Docherty

Es gibt wenige Dinge, die bei uns im Hause einen ganz festen Platz haben. Und damit meine ich nicht nur meine Suppentöpfe oder Couchkissen, die ständig durch die Gegend geschleppt, zu Schlagzeug und Picknickplatz aufgebaut werden und dann irgendwo im Garten liegen bleiben.

Sie bleiben dort oft tagelang, bis ich den Kindern nach gefühlt zwanzigfacher Rückbringaufforderung schließlich dabei helfe, die offenbar um zig Kilos schwerer gewordenen Dinge zurückzutragen – oder es einfach gleich selbst mache.

Auch Möbel haben bei uns keinen festen Platz. Sie stehen je nach Bedarf, Besuchsauslastung und Bauideen der Kinder auf-, über- oder ineinander verkeilt, mal in der Küche, mal in Ess- oder Wohnzimmer und gerne auch mal im Garten. Aber auch von unseren Einrichtungsschwierigkeiten will ich hier gar nicht sprechen.

Nein, ich meine es viel metaphorischer: Kaum etwas hat hier einen festen Platz im Alltag. Hier gibt es keine wirkliche Struktur, keinen festen Tagesablauf. Mahlzeiten werden beliebig über den Tag verteilt und durchgetauscht, Frühstücksbrote werden mit Genuss vor dem Zubettgehen verspeist oder das mittags verpönte Süppchen nachts um Mitternacht verlangt, wenn der große Hunger sich wieder einmal in der Uhrzeit geirrt hat. Es wird tagelang im Pyjama herumgeturnt und im Prinzessinnenkleid geschlummert.

Der Mittagsschlaf vom Lütten ist entweder morgens oder nachmittags, oder oft auch gar nicht mehr angesagt, und wenn um halb acht Uhr keine Lust auf Kindergarten bestand, dann schließt das nicht aus, dass wir um kurz vor neun doch noch schnell in die Gruppe spurten, weil mein Kind sonst die geliebte Turnstunde verpassen könnte. So alltäglich unser Leben auch ist, so unterschiedlich ist dennoch jeder Tag.

Nur eine Sache gibt es, an der in dieser Familie nicht gerüttelt wird. Egal, ob wir zuhause oder auf Reisen, irgendwo zu Besuch sind oder die Schlafenszeit von abends auf spät nachts verschoben wurde, weil es noch nicht dunkel genug oder der Kindergeburtstag noch lange nicht zu Ende war, egal, ob den ganzen Tag Harmonie herrschte oder wir uns immer wieder gestritten haben – kurzum: egal, was ist, die Kinder bekommen ihre Gutenachtgeschichte vorgelesen.

Das ist wichtig, das ist sogar elementar. Nach ihr verlangen die Kinder, pfeifen aufs Sandmännchen oder Schokobons. Die Gutenachtgeschichte darf nicht fehlen, egal, wie lang und anstrengend ein Tag war.

Und genau darum geht es in unserem aktuellen Buch der Woche, welches nun auch noch zusätzlich im englischen Original bei uns eingezogen ist: „The Snatchabook“. Oder, wie Junior wochenlang herzerwärmend niedlich rief: „Jaaaa! Büchernapp!“ Inzwischen hat er die Konsonantenfolge gelernt, das Buch hat also schon nachweisbar eine Bildungsleistung erbracht. Das wird aber nicht die einzige bleiben, denn es hat so viel zu geben.

Kurzrezension

Im Kaninchental ist es ganz selbstverständlich: Wenn draußen der Mond sein Licht durch die dunkle Nacht schickt, machen es sich alle Tiere in ihren Höhlen und Bauen gemütlich und aufgeregte kleine Dachse, Kaninchen, Igel, Mäuse, Eulen und Eichhörnchen lauschen gebannt den Geschichten, die ihre Eltern ihnen vorlesen.

Die Ruhe und Geborgenheit vor dem Schlafengehen wird jäh gestört, als ein geheimnisvolles Wesen durch die Dunkelheit flattert und schwupp und schnapp ein Buch nach dem anderen entwendet. Schon beginnen die Talbewohner misstrauisch, sich gegenseitig zu verdächtigen. Da fasst ein kleines Hasenmädchen seinen Mut und stellt dem Dieb eine Falle.

Doch Elisa Braun muss erstaunt feststellen, dass keine Habgier und kein krimineller Drang zu den Diebstählen führten, sondern pure Verzweiflung: Der kleine Bücherschnapp ist einsam und traurig, denn er hat niemanden, der ihm abends eine Geschichte vorliest. Dass er deshalb aber nicht den anderen Kindern die Geschichten stehlen darf, sieht er schnell ein. Er macht es wieder gut, indem er Buch für Buch still und heimlich zurückbringt.

Und weil wirklich einjeder eine Gutenachtgeschichte bekommen sollte, darf der Bücherschnapp künftig bei der Kaninchenfamilie bei der abendlichen Vorleserunde dabeisein.

 

Die in Reimform erzählte Geschichte ist lustig, spannend und anrührend und ihre Kernbotschaft trifft das Anliegen dieses Blogs: Eltern! Lest Euren Kindern vor! Morgens, mittags, nachmittags – und ganz besonders wichtig: zur Gutenacht! Denn was gibt es Schöneres, als gemeinsam zur Ruhe zu kommen, es sich gemütlich zu machen, sich geborgen zu fühlen und einer Geschichte zu lauschen, die die Kinder ins Reich der Träume geleitet?

Das englischsprachige Original lässt ein paar übersetzungsbedingte minimale Änderungen erkennen, doch der Charme der Geschichte wird in den deutschen Versen genauso gut eingefangen. Und beide Versionen bieten beim Vorlesen förmlich an, in Rhythmus, Tonlage und Lautstärke den Spannungsbogen und die rasante Begegnung mit dem geheimnisvollen Bücherdieb zu veranschaulichen.

Zwei Verse der deutschen Version haben es meiner Großen besonders angetan. Sie sorgen hier beim Mitsprechen der einprägsamen Reime stets für Begeisterung: „Was ist das?“, flüsterte es leis, als durch die Nacht es heulte. Doch SCHWUPP und SCHNAPP!, das Buch ist weg und eines Diebes Beute.“ sowie „Und dass so lieb der Schnapp heut‘ Nacht was falsch war, wiedergutgemacht.“

Die Möglichkeit, ein Unrecht wiedergutzumachen, ist für uns alle immer wieder eine gute Nachricht. Uneingeschränkt empfehlen wir Helen und Thomas‘ Dochertys Bücherschnapp für alle kleinen und großen (Vor-)Leser.

 

Altersempfehlung: 2-7 Jahre
Vorlesezeit: 8 Minuten

Daten zum Buch „Der Bücherschnapp – Jeder braucht eine Gutenachtgeschichte“

Titel: Der Bücherschnapp – Jeder braucht eine Gutenachtgeschichte
Autor: Helen Docherty, Thomas Docherty
Verlag: ellermann / Dressler
Jahr/Auflage: 2014

ISBN: 978-3770745005

Der Bücherschnapp

TitelwahlBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt10
Titelwahl10
Aufmachung10Hardcover
quadratisch
Liebevolle und ausdrucksstarke Zeichn ungen
Text/Sprache10Die Reime sind zwar mal Paarreime, mal Kreuzreime, aber sie sind flüssig und logisch und bleiben den Kindern schon nach wenigen Malen des Vorlesens im Kopf. Zudem ist die Sprache sehr gewählt und wohlklingend.
Inhalt10Im Kaninchental ist es selbstverständlich, dass überall die Eltern ihren Kindern abends Gutenachtgeschichten vorlesen. Doch plötzlich verschwinden alle Bücher, nach und nach, und die Bewohner verdächtigen sich schon gegenseitig. Da macht sich ein mutiges Kaninchen auf, den Dieb zu stellen, und erlebt eine Überraschung: Der Bücherschnapp handelte gar nicht aus kriminellen Motiven heraus, sondern aus großer Not: Er hat niemanden, der ihm etwas vorliest. Elisa Braun weiß eine Lösung.
Pädagogische Themen10Familie
Bücher vorlesen
Ehrlichkeit
Stehlen
Einsamkeit
Gemeinschaft
Wiedergutmachung
Streit
Misstrauen
Mut
Pädagogischer Wert10Im Kaninchental ist die Welt noch in Ordnung: Alle Eltern lesen ihren Kindern etwas vor. Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigt der kleine Bücherschnapp. Doch mit Empathie, Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft lässt sich alles in Ordnung bringen. Die Bedeutung des Vorlesens in der Familie, Werte wie Aufrichtigkeit, Wiedergutmachung und der Fehler des Stehlens sind wichtige vermittelte Werte. Zudem ist Elisa mutig und möchte vermeiden, dass Streit und Misstrauen sich ausbreiten im Kaninchental.
Schlüssigkeit/Logik9Kleiner Logikmangel: Der Diebstahl ansich hilft dem Bücherschnapp eigentlich nicht, denn Bücher nur zu besitzen, ändert nichts daran, dass er keinen hat, der ihm vorliest.
Kreativität10Lustiger und einfühlsamer kann uns Erwachsenen die Bedeutung der Gutenachtgeschichte kaum beibringen.