„Mama, ich bin jetzt tot“, ruft mein Kind mit Begeisterung, dass es mir Schauer über den Rücken jagt. „Das wäre aber schade“, sage ich ehrlich bestürzt. Aber noch während ich darüber nachdenke, welche Alternative ich zum Totsein-Spiel vorschlagen kann, ist das Opfer des Ritters schon wieder quicklebendig und hat auf Vater-Mutter-Kind umgeswitched. Der kleine Bruder muss das Ritterkostüm ablegen und in Babysprache kommentieren, dass er es doof findet, dass die „große-Schwester-Mama“ und der imaginäre Papa jetzt arbeiten müssen und keine Zeit für ihn haben.
Die Intensität, in der in diesem Haus auch düsterste Rollenspiele zelebriert werden, ist für Erwachsene, die sich von morgens bis abends mit realen Problemen und deren Bewältigung, wie Rechnungen zahlen, Windeln entsorgen und Auto reparieren, beschäftigen, immer wieder überraschend. Hundertprozentig gibt es aber belastbare wissenschaftliche Studien dazu, weshalb welche Art Rollenspiel wichtig für die psychologische Entwicklung von Kindern ist. In der Ahnung, dass auch das Totsein-Spiel etwas Positives mit sich bringen könnte, lasse ich die Kinder deshalb gewähren, kann aber nicht umhin, zuzugeben, dass es mich gruselt.
Im Elternforum las ich just von einer Mutter, die entsetzt ihre Kinder beim Nachspiel von Lönnebergas Michel beobachtete, und dringenden Gesprächsbedarf sah. Weniger wegen Michel, als wegen der Tatsache, dass die Kinder diese Sendung bei anderen Leuten unbegleitet gesehen und daher fragwürdige Rückschlüsse gezogen hatten. Die Überzeugung, dass es absolut in Ordnung ist, dass der Papa den frechen Michel hauen will, muss diese Mutter nun im ruhigen Gespräch wieder aus den Köpfen der Kinder bekommen. Denn – nur für den Fall, dass es nicht jedem klar ist- : Nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt Gewalt Erwachsener gegenüber Kindern. Das Rollenspiel ist in diesem Fall nicht das Problem, wohl aber die Interpretation der Rolle des Katthulter Bauern als „sich im Recht befindend“.
Rollenspiele verraten nicht nur viel über die Bücher, Fernsehsendungen und bei Erwachsenen beobachteten Situationen, die Kinder aufnehmen und nachempfinden – sie sagen auch viel darüber aus, wie ein Kind sich mit sich selbst und seiner Umwelt auseinandersetzt, wie es seine Träume, Wünsche, Möglichkeiten, aber auch Ängste ausdrückt und gedanklich durchlebt.
Wenn meine Kinder Prinzessin, Fee und Tiger spielen, fällt es mir leichter, ihnen dabei lächelnd zuzusehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich je im realen Leben mit einer solchen Rolle konfrontiert sehen werden, ist ja recht gering. Spielen sie Krankheit, Tod oder Außenseiter sein nach, werde ich aber hellhörig. Ich möchte sicher sein, die Ängste und Sorgen meiner Kinder nicht zu übersehen und ihnen bei Bedarf helfen, mögliche ernste und traurige Situationen einzuordnen und durchzustehen.
Die Phantasie ist eines der wertvollsten Güter der Kindheit. Sie ermöglicht es, Abenteuer und Träume, aber auch irrwitzige und beängstigende Situationen gedanklich durchzuspielen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten und Umgangsweisen einer Prüfung zu unterziehen, ohne tatsächlich in so eine Situation geraten zu müssen.
Im aktuellen Buch der Woche geht es um so ein „Was-wäre-wenn?“ von ganz besonders großer Tragweite.
Kurzrezension
Die Geschichte ist aus Livs Sicht heraus in Ich-Erzählweise geschrieben. Liv verbringt mit ihren älteren Schwestern Stine und Carlotta sowie den Eltern eine Ferienwoche auf dem Land, wie jeden Sommer. Doch diesmal ist etwas anders: Mama und Papa planen nämlich eine Wanderung durch das nahe gelegene Teufelsmoor.
Die Mädchen verzichten alle drei auf eine Teilnahme an diesem Ausflug, denn das Teufelsmoor ist ihnen nicht ganz geheuer. Immerhin könnte man im schwarzen Schlamm versinken und zur Moorleiche werden. Das jedenfalls sagt Carlotta, und Liv findet das sehr einleuchtend.
Nein, da blieben sie lieber in der sicheren Gästewohnung in Minte. Und das ist anfangs auch ganz witzig, denn in Minte dürfen sie in der Wirtschaft Knackwürste essen und sich ein Eis holen. Sie naschen Kirschen und besuchen die Bauernhoftiere. Stine bleibt derweil auf der Terrasse, lackiert ihre Nägel und plant ihre Zukunft als berühmte Modedesignerin. Schließlich ist sie die Älteste.
Doch dann kommt Carlotta und Liv in den Sinn, dass die Gefahren, die das Teufelsmoor birgt, ja nicht bloß Gefahren für Kinder sind, sondern dass auch ihre Eltern im Schlamm versinken könnten. Und von da an nimmt die überaus skurrile Geschichte gewaltig an Fahrt auf. Nach einem vergeblichen Versuch, das Smartphone der großen Schwester freizuschalten um die Eltern telefonisch um sofortige Umkehr zu bitten, malen sich die Schwestern aus, was geschieht, wenn ihre Eltern im Moor versinken und sie dadurch zu Waisenkindern werden würden.
Anfangs sind es nur Liv und Carlotta, die sich einen Plan überlegen, wie sie statt ins Waisenhaus oder zu einer bösen Tante zu kommen, sich selbst über Wasser halten könnten. Vorräte anlegen und den Gastwirten bei der Arbeit helfen sind ihre Ansätze. Da steigt plötzlich auch Stine, die Älteste, in die Planung ein und gibt der Waisenkindertheorie eine neue Dynamik. Sofort setzen die Mädchen ihre Arbeitspläne in die Tat um.
Marlies und Henner, die Gastwirte, staunen nicht schlecht, als sie plötzlich drei freiwillige und äußerst fleißige Aushilfen im Laden und in der Wirtschaft vorfinden. Das Lob und die Arbeit lassen die Mädchen ein wenig stolz und selbstsicher werden, weil sie sicher sind, dass sie schon einen Weg finden werden, als Waisenkinder zu überleben, solange sie nur zusammenhalten. Doch nach und nach steigt eine gewaltige Angst und Traurigkeit in ihnen hoch bei der Erinnerung, wie gut und schön sie es doch hatten, als ihre Eltern noch da waren, und der Vorstellung, dass diese tatsächlich nicht mehr von ihrem Ausflug zurückkehren könnten.
Nun, diese Eltern, die natürlich nicht im Teufelsmoor versinken, staunen ebenfalls nicht schlecht, als sie bei ihrer Rückkehr erfahren, was ihre fleißigen Töchter den Tag über so getrieben haben. Beim Leser macht sich indes eine gewisse Enttäuschung breit, dass diese witzige, charmante und skurrile Geschichte um die drei ungleichen Schwestern schon nach 59 kleinen Seiten zuende ist. Doch dem kann Abhilfe geschaffen werden, indem man einfach noch einmal von vorne beginnt, das Büchlein zu lesen.
Huppertz Sprache macht Laune, die Geschichte ist witzig und skurril und die Figuren wurden auf ihre einzigartige Weise allesamt sympathisch und authentisch gezeichnet. Apropos gezeichnet: Mit wenigen Farben und Strichen schafft es Maja Bohn, Stimmungen, Charaktere und Gegebenheiten so punktgenau einzufangen, dass die Bilder diese ohnehin schon absolut gelungene Geschichte wunderbar ergänzen.
Der Phantasie und der Individualität der drei Mädchen wird in diesem Buch auf so geniale Weise Raum gegeben, dass es sich den Titel „Buch der Woche“ redlich verdient hat.
Altersempfehlung: 7-9 Jahre
Lesezeit/Seitenzahl: 59 Seiten
Daten zum Buch „Als wir einmal Waisenkinder waren“
Titel: Als wir einmal Waisenkinder waren
Autor: Nikola Huppertz, Maja Bohn
Verlag: Tulipan
Jahr/Auflage: 2018/1.
ISBN: 978-3864293450
Als wir einmal Waisenkinder waren
Kriterium | Bewertung (1-10) | Begründung |
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Punkte gesamt | 10 | |
Titelwahl | 10 | |
Aufmachung | 10 | handliches kleines Format, gebunden witzige und treffsichere Zeichnungen ergänzen die Geschichte |
Text/Sprache | 10 | Die Sprache der Autorin ist witzig und der Text kurzweilig. Der kleine Roman passt in jede Tasche und eignet sich für den Schulbus ebenso wie für die Ferien am Strand. |
Inhalt | 10 | Drei vollkommen unterschiedliche Schwestern verbringen einen ganzen Tag ohne ihre Eltern am Ferienort, denn sie wollen die Wanderung ins Teufelsmoor nicht mitmachen. Doch das anfängliche Vergnügen, so frei und selbstbestimmt in den Tag leben zu können, weicht nach und nach der Sorge, ihren Eltern könne im Moor etwas zustoßen und sie könnten zu Waisenkindern werden. Die in ihrer Phantasie ausgemalte Situation und der einzig mögliche Überlebensplan wird von den tatkräftigen Mädchen umgehend in die Tat umgesetzt. |
Pädagogische Themen | 10 | Familie Geschwister Streit Angst Sorge Vertrauen Mut Verantwortung Selbständigkeit Zusammenhalt |
Pädagogischer Wert | 10 | Die Tatkraft und der Zusammenhalt der so unterschiedlichen Mädchen, die sich erst mit ihrer Phantasie und ihren Ängsten anstecken, um anschließend gemeinsam einen Überlebensplan in die Tat umzusetzen, zeigt den kleinen Lesern, dass es immer einen Weg gibt - auch wenn man zum Glück mal nicht in die Situation kommt, ihn gehen zu müssen. Der Roman gesteht der Phantasie ein großes Recht im Leben der Kinder zu. |
Schlüssigkeit/Logik | 10 | |
Kreativität | 10 | witzig, skurril, genial |