Ali & Anton – Wir sind doch alle gleich!

Ali & Anton – Wir sind doch alle gleich! Ahmet Özdemir

Ali und Anton könnten unterschiedlicher nicht sein – jedenfalls was das Äußere angeht. Aber kommt es darauf an?

Rezension

Ali soll in die Kita gehen. Er weiß nicht so recht, was ihn dort erwartet, und deshalb hat er etwas Angst. Seine Mutter versucht zunächst, ihn zu ermuntern. Doch auch die Aussicht auf andere Kinder und viel Spielzeug können Ali nicht überzeugen. Er will nicht in die Kita.

Hin muss er trotzdem. Vor der Kita spielt sich eine ähnliche Szene ab, wie bei Ali zuhause – nur mit dem Unterschied, dass das Kind, das sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, von der Mutter im Kindergarten abgegeben zu werden, Anton heißt, und vom Äußeren her das genaue Gegenteil von Ali ist.

Ali erkennt, dass Anton auch Angst hat. Anton gleicht mit seinen blonden Locken und den blauen Augen in Alis Augen einem Engel. Das sagt er auch seiner Mutter: „Mama, da sitzt ein Engel.“ Anton schreit Ali wütend an, doch Ali starrt weiter zu ihm hinüber. Anton schimpft: „Mama, sag dem Jungen mit den schwarzen Haaren, er soll mich nicht so anschauen.“

Beide Jungen werden nun gegen ihren Willen in die Kita gebracht und finden sich gegenseitig doof. Anton schreit und weint. Auch andere Kinder in der Kita weinen, weil ihre Mütter wieder gehen. Ali überlegt, ob er zu Anton gehen soll. Doch Anton weist ihn schon von weitem barsch zurück. Nun muss auch Ali weinen. Und Anton erklärt prompt, warum er nicht mit Ali spielen will, nämlich, weil der so anders aussieht, als Anton selbst. Ali nennt daraufhin Antons Sommersprossen hässlich.

Während die Jungen sich gegenseitig beleidigen, stellt sich Rudy, ein schwarzes Mädchen, vor sie hin, belehrt sie über Engel und nennt sie Teufel. Die Jungen beschimpfen sich weiter und Rudy noch dazu.

Rudy ist nun ihrerseits genervt von den streitenden Jungen und geht wieder weg. Sie ruft zu ihnen hinüber, dass sie nicht mit ihnen spielen will. Ali sagt, er will ohnehin nicht mit einem Mädchen spielen, und Anton schimpft über Rudys Hautfarbe. Rudy denkt sich derweil, inspiriert von dem Streit der Jungen, ein Puppenspiel aus. Sie wählt ganz verschieden aussehende Puppen und lässt sie nett zueinander sein.

Ali und Anton hören auf zu streiten und gucken Rudy bei ihrem Puppentheater zu. Die Jungen fangen an, nachzudenken, ob es wohl wirklich so einfach ist, miteinander nett zu spielen, obwohl man so unterschiedlich aussieht. Auch andere Kinder schauen inzwischen den netten Puppen zu. Rudy schaut zu Ali und Anton hinüber, und dann müssen die Jungen ein bisschen lachen und sehen ein, dass es nicht schlimm ist, unterschiedlich zu sein. Rudy beschimpft die Jungen trotzdem noch einmal und fordert sie dann auf, Engel zu werden. Die Jungen sind einverstanden und küssen und umarmen sich. Dann spielen die Kinder alle zusammen und sind fröhlich.

 

 

Das Thema ist wichtig, die Intention richtig, das Nachwort des Autors ebenfalls. Die Zeichnungen sind gelungen. Sowohl die spielenden, als auch die streitenden Kinder sind individuell getroffen und haben Wiedererkennungscharakter. Die Farben sind warm, die Szenen aussagekräftig. Die Aussagen der Kinder werden comicartig in „Bildblasen“ wiedergegeben.

Leider aber ist diese Geschichte nur unter ganz sorgfältig ausgewählten Rahmenbedingungen und mit pädagogischer Vor- und Nachbesprechung überhaupt zum Vorlesen für Kindergartenkinder geeignet. Grund dafür ist zum einen die Tonart, die Ali und Anton anschlagen. Sie ist hart, aber nicht sehr authentisch. Vergleiche, wie Engel und Teufel, hässliche Sommersprossen, schwarze Spinne, blöder Käse – wo reden Kinder so miteinander?

Rassismus begegnet uns im Alltag, das ist traurige Realität. Und Rassismus kann von Erwachsenen auf Kinder übertragen werden, auch das ist Realität. Aber verbreiteter, als der plumpe, rausgebrüllte Rassismus, ist der subtile, unterschwellige Rassismus, an dem dieses Land krankt. Der Kunde in der Autowerkstatt, der sagt, sein Auto dürfe nicht vom muslimischen Mitarbeiter repariert werden, die S-Bahnfahrerin, die eine Tasche auf den freien Platz neben sich stellt, wenn ein Mensch mit dunkler Hautfarbe einsteigt, der Personalchef, der Bewerbungen nach Namen aussortiert, der Telefonberater, der das Gespräch wegdrückt, weil er das gebrochene Deutsch des Kunden nicht hören will. Und eigentlich jeder, der einen Satz beginnt mit: „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber-.“

Dieser Rassismus, oft auf Angst und Unwissenheit basierend, wird hier aber nicht thematisiert. Hier werden zwei verängstigte Kinder ganz plötzlich zu aggressiven, hasserfüllten Wesen, die über ihre Haarfarben schimpfen. Und es erschließt sich nicht, warum das so ist. Es ist auch nicht schlüssig, dass diese Aggression plötzlich verschwindet, nur weil ein drittes Kind ausgesprochen belehrend, um nicht zu sagen „klugschnackend“, auftritt und die Streithähne selbst beschimpft.

 

Lese ich unbedarften Kindern diese Geschichte vor – was bliebe ihnen wohl am stärksten in Erinnerung? Die Auflösung von der letzten Seite, auf der plötzlich alle Kinder miteinander friedlich spielen? Oder nicht eher dieser sich über zwei Drittel des Buches ziehende Streit, der in scharfen Worten und Bildern ausgedrückte Hass? Würden Kinder, denen Rassismus fremd ist, vielleicht plötzlich anfangen, über Unterschiede anders zu denken? Äußerlichkeiten wie blonde Locken mit Engeln in Verbindung bringen und dunkle Haut als Schokolade bezeichnen? Sie würden das, was ich vorlese, zumindest seltsam finden, verunsichert sein, die Worte vielleicht kichernd wiederholen. Dann müsste ich ihnen Vergleiche, die ich überhaupt nur durch das Vorlesen ins Spiel gebracht hätte, wieder ausreden.

Zur Prävention eignet sich diese Geschichte daher nicht besonders gut. Sie ist nicht authentisch und in der Rolle der Rudy viel zu belehrend. Keine der Figuren kommt wirklich richtig sympathisch herüber. Die Idee, verschiedene Kindergartenkinder, die alle im selben Boot sitzen, ganz anders und doch ganz gleich sind, gemeinsam ihre Ängste überwinden zu lassen, ist gut. Aber auf die Ängste der Kinder wird dann leider gar nicht eingegangen, und damit kommen wir zum zweiten großen Kritikpunkt:

Die Darstellung, wie die Mütter und der Kindergarten – abwechselnd als Kita und Kindergarten bezeichnet – mit den Kindern umgehen. Hier wird auf eine weder übliche, noch besonders angenehme Art der erste Kindergartentag gestartet: Ausschließlich Mütter – Achtung, Geschlechterklischee – bringen die verängstigten und gleichzeitig wütenden Kinder, als „bockig“ bezeichnet, gegen ihren Willen in den Kindergarten. Sie ziehen sie regelrecht hinein und gehen dann einfach wieder, mit der rhetorischen Frage „Hast du denn immer noch keine Lust?“ Achtlosigkeit und sogar Gewalt – denn Ziehen ist physische Machtausübung – werden hier unreflektiert als normale Umgangsart von Eltern mit ihren Kindern dargeboten. Dass Eltern die Ängste ihrer Kinder ignorieren, sie, statt sie in ihrer Angst zu begleiten, als „stur“ bezeichnen, als Kinder, die „nicht hören“ – ja, auch das gibt es leider. Aber ist das das Familienbild, das ich kleinen Kindern in einem Bilderbuch nahebringen möchte?

Weiter geht es mit der Darstellung der Ereignisse in der Kita: Erzieher/innen, die sich den weinenden Kindern annehmen? Fehlanzeige. Erzieher/innen, die einschreiten, weil zwei Kinder sich derbe rassistisch beschimpfen? Fehlanzeige. Offenbar sind hier die Kinder komplett sich selbst überlassen. Ich kann nicht ausschließen, dass es Orte und Kitas gibt, in denen es so, wie in der Geschichte beschrieben, abläuft. Und dort kann man das Buch dann auch vorlesen, denn es spiegelt wohl die Realität. Wo aber kein achtsamer Erwachsener ist, der vorlesen würde, nützt auch ein belehrendes Buch nichts.

Es wird mir daher nicht ganz klar, wer hier die Zielgruppe bildet. Empfohlen wird das Buch ab vier Jahren. Aber eigentlich ist der belehrende Ton von Rudy wohl eher an Eltern gerichtet.

Der Ansatz, wie gesagt, ist gut. Gerne würde ich eine Fortsetzung lesen von Ali und Anton. Geschichten, in denen sie zusammen Abenteuer erleben, sich vielleicht gemeinsam gegen Rassismus zur Wehr setzen. Geschichten, in denen ihre Familien sich kennenlernen und Vorurteile abbauen, Geschichten, in denen sie ihre unterschiedlichen Kulturen kennenlernen – eben einfach Geschichten, die man Kindern überall vorlesen kann, und die ihre Botschaft und Moral tatsächlich über eine nachvollziehbare Handlung transportieren. Rudys Puppenspiel ist leider einfach zu aufgesetzt, zu gewollt, zu künstlich belehrend.

Bücher zum Thema Rassismus sind wichtig und richtig und leider bitter nötig. Aber diese Umsetzung hier überzeugt leider nicht.

 

Altersempfehlung: 5-6 Jahre
Vorlesezeit: 15 Minuten

Daten zum Buch „Ali & Anton – Wir sind doch alle gleich!“

Titel: Ali & Anton – Wir sind doch alle gleich!
Autor: Ahmet Özdemir
Verlag: Shaker media
Jahr/Auflage: 2017

ISBN: 978-3956315862

Ali und Anton - Wir sind doch alle gleich!

KriteriumBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt8
Titelwahl10
Aufmachung10Din A 4, gebunden, ausdrucksstarke Zeichnungen in warmen Tönen, Bildsprechblasen mit Comiccharakter
Text/Sprache9Der Text ist von Umfang, Satzbau und Vokabular her gesehen für Leseanfänger zu bewältigen. Die Sprache der Kinder ist jedoch nicht sehr authentisch.
Inhalt7Die Geschichte geht ganz gut los, zwei Kinder, unterschiedliches Äußeres, aber gleiche Emotion: Angst vor dem Kindergarten. Die Mütter laden sie einfach dort ab und die Kinder fangen willenlos an, sich gegenseitig zu beleidigen und über ihr Äußeres herzuziehen. Ein drittes Kind kommt mit moralischem Zeigefinger dazu und schimpft, dann denkt Rudy sich ein Puppenspiel aus und alle Probleme sind gelöst. Hm.
Pädagogische Themen10Rassismus
Angst
Fremdenfeindlichkeit
Freundschaft
Unterschiede / Diversity
Hass
Pädagogischer Wert7Leider bleiben am Ende der Geschichte die Beschimpfungen mehr in Erinnerung, als das friedliche Miteinander. Der Gesinnungswandel von Angst zu Hass und Hass zu Kuss und Umarmung ist plakativ und nicht schlüssig beschrieben, daher nicht nachvollziehbar. Da alle Figuren nicht sehr sympathisch herüberkommen, ist Identifikation und Empathie schwer zu entwickeln. Das Buch läuft Gefahr, am eigenen Anspruch zu scheitern, weil der positive Gedanke der Gleichheit und des friedlichen Miteinanders durch die künstlich belehrend wirkende Rudy transportiert werden soll. Dass die Mütter so achtlos agieren und keine Erzieher auf die weinenden und sich ebschimpfenden Kinder eingehen, macht Kindergartenkindern einfach nur Angst.
Schlüssigkeit/Logik8Die Emotionen der Kinder, der urplötzlich die Angst ersetzende Hass und die Wirkung des Puppenspiels der viel zu belehrend auftretenden Rudy sind ebenso unlogisch, wie der Kindergarten ohne in Erscheinung tretende Erzieher. Was genau jetzt da willenlos über die Seiten verteilte Alphabet für einen Mehrwert bringen soll, erschließt sich nicht. Wären die Buchstaben durchgehend als Kapitel-/ Satzanfang verwendet worden, hätte es vielleicht noch Sinn gemacht.
Kreativität9Die Intention und die Grundidee sind gut, aber absolut ausbaufähig.