„Nein, ich will das nicht!“ brüllt mein Junior mir mit aller Kraft entgegen, als ich versuche, ihn in den Einkaufswagensitz zu heben. Seufzend setze ich mein Kind also auf dem Boden ab und weg ist es. In der Nudelabteilung höre ich es rascheln und irgendein anderer Kunde kann sich ein „Bekommt der immer seinen Willen?“ nicht verkneifen.
Junior hasst diese unbequemen einengenden Korbsitze. Als er noch kleiner war und gerade sitzen gelernt hatte, fand er es toll, so weit oben zu thronen und endlich einmal alles und jeden auf Augenhöhe zu sehen.
Aber wie das so ist mit dem Leben: Alles entwickelt sich stetig fort – zum Glück. Und so ist auch das Sitzen im Einkaufswagenkorb für Junior irgendwann uninteressant. Nämlich dann, wenn die motorische Entwicklung das Kind befähigt, den aufrechten Gang zu beherrschen und die Gänge des Supermarktes somit auf eigene Faust erkundet werden können.
Ich bin schon froh, wenn es nur raschelt und nicht klirrt, und versuche, den Weg durch den Markt kurz zu halten und nur das Nötigste zu besorgen. Einkaufen mit Kindern ist eine dieser Proben, auf die der Herrgott uns Eltern regelmäßig stellt. Hat man gleich zwei lauffähige Kinder beim Einkauf dabei, wird es zur richtigen Herausforderung: Wer setzt sich wann durch, wer bekommt seinen Willen öfter und wer sagt öfter „Nein“?
Ich bin eine mehr oder weniger erfolgreiche Nein-Sagerin. Das bedeutet, dass ich überdurchschnittlich oft „Nein“ sage, aber zu 75 Prozent bleibt es wirkungslos. „Schlecht erzogen“ mag daher manch einer meine Kinder nennen. Andere wiederum könnten mir vorwerfen, zu oft „Nein“ zu sagen, weil sie selbst ihre Kinder in einer Ja-Umgebung aufwachsen lassen und jede Regel sorgsam überdenken.
Ich bemühe mich sehr wohl darum, meine Regeln zu hinterfragen und unnütze Regeln abzuschaffen. Aber ich stehe auch zu meinem „Nein“, wenn meine Grenzen oder die Grenzen anderer Menschen einfach übergangen werden. „Nein“ war deshalb eines der ersten Worte, welches meine Kinder nachsprechen konnten, gleich nach Mama, Papa, Hund. Und es ist ein wichtiges Wort für die Kleinen. Denn ihre Grenzen werden regelmäßig von den Großen dieser Welt übertreten.
Wir Erwachsenen setzen uns nur zu leicht über unsere Kinder hinweg und übersehen dabei, welchen Schaden wir damit anrichten können. Wir umarmen und küssen sie, wann wir wollen, oder bitten sie aus falsch verstandener Höflichkeit, auch andere Menschen zu umarmen oder zu küssen. „Gib der Tante einen Kuss, sonst ist sie traurig“ beispielsweise: Unhinterfragt, unreflektiert belasten wir unsere Kinder mit solchen Sätzen, üben Druck aus und inneren Zwang. Welches Kind will schon Schuld daran sein, wenn Omi oder Tante traurig sind? Und wenn der nette Nachbar ein Geschenk mitbringt, dann hat er doch wenigstens zum Dank einen Kuss verdient, oder? Wer kommt schon auf die Idee, das Kind zu fragen, ob es umarmt, gedrückt und geknutscht werden will? Man will dem Kind ja nichts Böses, man hat es doch lieb.
Wenn ich mein Kind in den Einkaufswagen setze, will ich ihm auch nichts Böses. Ich will in erster Linie einen leichten Einkauf haben. Das sitzende Kind kann nichts aus den Regalen reißen und nicht weglaufen. Aber wenn ich mein Kind frage: „Willst Du im Wagen sitzen“ und es sagt „Nein“, dann bedeutet ein „trotzdem Hineinsetzen“ nichts anderes, als den Willen meines Kindes und seine körperliche Selbstbestimmung zu ignorieren und ihm meinen Willen aufzunötigen.
Was sag ich also den anderen Kunden, die mich kopfschüttelnd ansehen und fragen: „Bekommt das Kind immer seinen Willen?“ „Nein, mein Kind bekommt nicht immer seinen Willen. Aber es sagt seinen Willen immer. Laut und deutlich. Und ich breche seinen Willen nicht aus Prinzip, nur um meinen eigenen Willen durchzusetzen.“
Wenn wir wollen, dass unsere Kinder sich zur Wehr setzen und sich nicht von anderen Menschen gegen ihren Willen anfassen, küssen oder zu irgendetwas anderem nötigen lassen – dann müssen wir sie stärken, ihren Willen respektieren und ihre körperliche Selbstbestimmung wann immer es geht – also immer dann, wenn niemand gefährdet wird – achten. Dann lernen unsere Kinder, stark zu sein und „Nein“ zu sagen, wenn sie etwas nicht möchten.
Kurzrezension
In diesem Bilderbuch wird ein wichtiges Thema angesprochen: Das Recht der Kinder auf Selbstbestimmung und den Mut zu haben, „Nein“ zu sagen. Das Mädchen Lea sieht sich sechs unterschiedlichen Situationen ausgesetzt, in denen größere Menschen etwas von ihr wollen, das sie nicht will: Ein Junge will ihre Schokolade haben, die nette Nachbarin will Lea drücken, die Tante will sie knutschen, Papas Geschäftsfreund will sie auf seinen Schoß setzen, die Mama der neuen Spielkameradin will sie mit nach Hause nehmen, obwohl sie Leas Mutter noch gar nicht kennt. Und auch der fremde Mann am Zaun will Lea mitnehmen – angeblich, um ihr ein Katzenbaby zu zeigen.
Wie soll Lea reagieren, was soll sie sagen? Zu jeder geschilderten Situation finden sich drei Antwortmöglichkeiten, die der Vorleser dem zuhörenden Kind nun anbietet. Das Kind soll sagen, wie Lea sich entscheiden sollte. Und das ist nicht so einfach und selbstverständlich, wie es klingt.
Ich war ganz schön irritiert, dass mein sonst so selbstbewusst wirkendes Kind schon bei der ersten Situation anders antwortet, als erwartet. Mein Kind ist nämlich bereit, die Schokolade zu teilen. Grundsätzlich eine schöne Eigenschaft. Aber in dieser Situation will der böse Junge Leas Schokolade ganz für sich haben. Lea sollte also selbstbewusst „Nein“ sagen, wenn sie ihre Schokolade selbst essen will. Und sich dabei aufrecht hinstellen, beide Füße fest auf den Boden. Denn das gibt ihr Halt und Sicherheit.
Natürlich ist es nicht dasselbe, ungewollt einen Kuss von Oma oder Tante zu bekommen, wie sexuell missbraucht zu werden. Aber Kinder, deren Willen und Recht auf Selbstbestimmung in der Familie geachtet werden, deren oft leises oder gar unausgesprochenes „Nein“ von aufmerksamen Eltern gehört wird, fassen eher den Mut, auch Mobbern und Gefährdern gegenüber klar, laut und deutlich „Nein“ zu sagen und, wenn nötig, Schutz und Beistand bei anderen Erwachsenen zu suchen.
„Ich bin stark, ich sag laut „Nein!“ ist deshalb unser aktuelles Buch der Woche und auch für Kindergärten und andere Einrichtungen zu empfehlen.
Altersempfehlung: 5-7 Jahre
Vorlesezeit: 12-15 Minuten
Daten zum Buch „Ich bin stark, ich sag laut Nein! So werden Kinder selbstbewusst“
Titel: Ich bin stark, ich sag laut Nein! So werden Kinder selbstbewusst
Autor: Susa Apenrade, Miriam Cordes
Verlag: Arena
Jahr/Auflage: 2013 / 7.
ISBN: 978-3401091655
Ich bin stark, ich sag laut Nein!
Titelwahl | Bewertung (1-10) | Begründung |
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Punkte gesamt | 10 | |
Titelwahl | 9 | Ein bisschen kürzer und knackiger könnte der Titel sein. |
Aufmachung | 10 | Hardcover DinA4 auffälliges Cover, das die vier der sechs Konfliktsituationen des Buches in Ausschnitten zeigt Die Figuren sind gut gezeichnet und haben Wiedererkennunswert. Auch Leas Überlegungen werden gut durch ihre nachdenkliche Pose veranschaulicht. |
Text/Sprache | 10 | Der Text ist recht lang für ein Bilderbuch, doch die geschilderten Situationen und die Überlegungen werden dadurch verständlich und in klaren Worten transportiert. |
Inhalt | 10 | Das Bilderbuch ist nicht als Geschichte aufgebaut, sondern besteht aus sechs Konfliktsituationen, in denen das Kind Lea überlegen muss, wie sie auf Nötigungen unterschiedlichster Art reagieren kann. DIe Fragen fordern Vorleser und Zuhörer auf, gemeinsam zu überlegen, wie man selbst in so einer Situation reagieren würde, und wie man reagieren sollte. |
Pädagogische Themen | 10 | Nötigung Missbrauchsprävention Schutz Selbstbewusstsein eigener Körper Mut Vertrauen |
Pädagogischer Wert | 10 | Dieses Buch verdeutlicht auch dem Vorleser, wie schnell Kinder in Konfliktsituationen geraten und sich genötigt fühlen können. Für Erwachsene scheinbar harmlose Berührungen oder Erwartungen können für Kinder sehr unangenehm sein, und sollten nicht durch falsche Höflichkeiten erzwungen werden. |
Schlüssigkeit/Logik | 9 | Warum die Eltern überhaupt in der vorletzten Szene zulassen, dass der Geschäftsfreund Lea immer auf den Schoß nimmt, ist fraglich. Auch die Voraussetzung, dass Lea auf dem Spielplatz geschützt ist, weil vorausgesetzt wird, dass dort auch andere Erwachsene sind, die ihr helfen können, ist nicht selbstverständlich. |
Kreativität | 9 |