Der Ernst des Lebens

Der Ernst des Lebens, Sabine Jörg, Antje Drescher

In vielen Bundesländern gehen in diesen Tagen die Ferien zuende. Und für viele Kinder heißt das: Es beginnt der „Ernst des Lebens“. Aber was heißt das überhaupt?

Kurzrezension

Annette wird bald sechs. Doch weil immer wieder Erwachsene zu ihr sagen, dass sie mit sechs in die Schule kommt und dann der „Ernst des Lebens“ beginnt, hat sie gemischte Gefühle. So, wie die Erwachsenen das sagen, muss dieser Ernst etwas ganz Schlimmes sein.

Annette malt sich aus, wie der Ernst des Lebens als Felsbrocken daherkommt oder als geschenkefressendes Monster. Sie erwartet schon, ihn in einem ihrer Geburtstagsgeschenke zu finden. Doch auch als sie sechs wird, passiert nichts, was diese Bangemacherei der Großen rechtfertigen könnte.

Schließlich kommt Annette in die Schule. Auch hier scheint alles in Ordnung und unspektakulär zu sein. Und dann lernt sie einen freundlichen und lustigen Jungen namens Ernst kennen und stellt fest, dass der Ernst des Lebens im Grunde ein ganz feiner Kerl ist. Sie stellt ihn ihrer Familie vor und bittet alle darum, nett zum „Ernst ihres Lebens“ zu sein.

 

Die Metapher ist ganz lustig, die Absicht sehr positiv, dennoch hapert es etwas an der Umsetzung. Als reines Vorlesebilderbuch oder gar zum ersten Selbstlesen für Schulanfänger ist die hintergründige Doppeldeutigkeit samt Moral nämlich etwas zu abstrakt.

Das Buch ist eher ein Signal an erwachsene Vorleser: Wie schnell ist ein Nebensatz wie „dann beginnt der Ernst des Lebens“ dahingesagt. Dabei ist er nicht nur unnütz und unnötig, sondern gar kontraproduktiv. Er wirkt wie eine Warnung, ja, gar Drohung, und schwebt beängstigend über den kleinen wissbegierigen Kindern. „Warte es nur ab, dein unbeschwertes Leben ist bald vorbei“, wird da behauptet – meist infolge eines kindlichen „Fehlverhaltens“, eines Moments, in dem das Kind Kind war und so scheinbar gar nicht in seine zukünftige Rolle als „vernünftiges Schulkind“ passte.

„Lasst die Kinder noch ein Jahr unbeschwerte Kindheit im Kindergarten genießen“, rufen die Befürworter späterer Einschulung den Eltern der sogenannten Kann-Kinder zu. Als ob mit der Schultüte in der Hand und dem Ranzen auf dem Rücken eine unmenschliche Bürde auf die kleinen Schultern gehievt würde. Okay, was das Gewicht der Bücher angeht, kann das durchaus zutreffen. Aber sollten sich nicht grundsätzich mehr Erwachsene finden, die den Kindern beim Tragen helfen, wenn etwas zu schwer wird?

 

Dieses Bilderbuch kann vor allem den Vorleser aufwecken, ihm vor Augen führen, welche unnötigen Ängste seine Worte auslösen können. Der Schulstart, so neu und aufregend und herausfordernd er für Sechsjährige auch ist, ist doch grundsätzlich nicht als Belastungsprobe oder gar Strafe gedacht.

Im Gegenteil: Die Schule – auch wenn sie leider natürlich nicht überall und in jeder Klassenkonstellation und Lehrkraft Perfektion bietet – ist für unsere Kinder in allererster Linie eine große Chance für die Zukunft. Die Schule ist ein Bildungsort, Raum für Weiterentwicklung, Begleitung der Heranwachsenden, mit Raum für Selbstfindung und Hilfe zur Orientierung.

 

Auch wenn nicht alles, was in der Schule gelehrt wird, für’s Leben nützlich scheint, so ist es doch ein Privileg der Kinder in unserem Land, dass jedes von ihnen ein Anrecht auf Schulbildung hat, ja, sogar die Schulpflicht besteht, mit dem Ziel, niemanden bildungs- und somit chancenlos zurückzulassen.

Es gibt in dieser Welt noch viele Orte, an denen Kinder diese Chancen nicht haben. Denken wir daran, bevor wir uns gedankenlos zu Sätzen hinreißen lassen, die unseren Kindern Angst vor der Schule machen, statt ihnen ihre Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten vor Augen zu führen und sie mit Neugier und Zuversicht in den Schulstart zu begleiten.

Altersempfehlung: 5-7 Jahre
Vorlesezeit: 6 Minuten

Daten zum Buch „Der Ernst des Lebens“

Titel: Der Ernst des Lebens
Autor: Sabine Jörg, Antje Drescher
Verlag: Thienemann
Jahr/Auflage: 2015

ISBN: 978-3522437660

Der Ernst des Lebens

KriteriumBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt9
Titelwahl10
Aufmachung9Hardcover
DinA4
Figuren und Gegenstände sind locker gezeichnet, die Farben gedeckt, nicht zu schrill, aber eine besondere Ausstrahlug fehlt.
Text/Sprache9Einfache Sprache
Der Text ist recht kurz und die Zusammenhänge zwischen Text und Bildern müssen beim Vorlesen besprochen werden, da sonst die gezeichnete Handlung untergeht.
Inhalt8Annette wundert sich über die Aussage "Mit sechs beginnt der Ernst des Lebens". Sie überlegt, was damit gemeint sein könnte. Sie hat den Satz schon öfter gehört, zum Beispiel von Mama, als Annette gerade mit Mehl spielt. Ihre große Schwester macht ihr Angst, weil sie meint, im "Baby-Kindergarten" hätte man es gut - im Gegensatz zur Schule, soll es offenbar bedeuten. So kommt es, dass Annette sich so recht auf ihren sechsten Geburtstag freuen kann, denn der Ernst des Lebens muss ja schließlich sehr beängstigend sein und womöglich in einem der Geschenke versteckt oder noch schlimmer - alle Geschenke auffressen. Doch der Geburtstag verläuft unspektakulär, ebenso der Schulstart. Dann lernt Annette einen Jungen namens Ernst kennen, mit dem sie sich gut versteht, und sie zeigt ihrer Familie, dass der "Ernst des Lebens" gar icht schlimm ist. Die Handlung ist rar und die Bilder werden vom kurzen Text nur begleitet.
Pädagogische Themen9Schulstart
Verunsicherung
Wortspiel
Familie
Pädagogischer Wert8Es fehlt die Auflösung - das Kind weiß am Ende der Geschichte nicht, warum die Großen immer vom "Ernst des Lebens" sprechen. Und bei den Erwachsenen in der Geschichte bleibt die Einsicht, dass sie damit das Kind verunsichert haben, aus. Das Buch stellt zwar infrage, ob es Sinn macht, Kindern Angst zu machen und sie zu verunsichern, doch die Auflösung muss das Kind in der Geschichte selbst finden. Die Metapher, um die es eigentlich geht, muss einem Schulanfänger erklärt werden. Letztlich liegt der pädagogische Wert eher darin, dem Vorleser vor Augen zu führen, was er mit unbedacht dahergesagten Sätzen für Ängste und Sorgen in einem Kind auslösen kann.
Schlüssigkeit/Logik8Es fehlt die kindgerechte Auflösung derm Metapher, sie muss vom Vorleser erklärt werden.
Kreativität9