Ehrlich, ich war’s nicht

Ehrlich, ich war's nicht_Timm_Scheffler

Ehrlich, ich war’s nicht, Jutta Timm, Ursel Scheffler

Erbärmliches Geschrei tönt aus dem Kinderzimmer. Ich spurte die Treppe hinauf und schaue in die verheulten Gesichter meiner beiden Lieblingskinder. „Was ist denn los?“ frage ich, und erwarte eigentlich gar nicht so recht eine schlüssige oder gar wahre Antwort. Der Lütte äußert sich zwar meist noch wahrheitsgetreu, aber so um- und unverständlich, dass ich raten muss, was er mir sagen will. Die Große kann zwar glaubwürdig erklären, wie der Lütte sie lang und ausdauernd an den Haaren gezogen hat – was ihn dazu brachte aber, nämlich das von ihr entrissene Spielzeug, verschweigt sie mehr oder weniger bewusst. Ich erschließe den Grund aus dem Teddy mit dem schlaff herunterhängendem Arm oder einem zerbrochenen Haarreif, der zwischen den beiden Streithähnen am Boden liegt.

Nach einer Runde doppelseitigen Tröstens und Tränentrocknens sucht Detektiv Mutti systematisch beide Kinder nach Wunden ab, und stößt dabei auf verräterische Spuren am Arm des Juniors. „Hast du deinen Bruder gebissen?“, frage ich. Na, wer ahnt, was ich zur Antwort bekomme? „Nein!“ Natürlich nicht. „Und woher hat er dann diesen Bissabdruck am Arm?“ „Keine Ahnung.“ Oder noch besser: „Das war die Alex.“ Ich blicke auf die friedlich im Flur schlummernde Hündin, deren Gemüt es praktisch unmöglich macht, eines der Kinder zu beißen, und deren Zähne andernfalls auch etwas Anderes als solch einen Miniabdruck hinterlassen hätten. „Glaub ich nicht“, stelle ich fest.

 

Manchmal frage ich weiter, manchmal setze ich meine Ermittlungsergebnisse auch einfach als Faktum und erkläre erneut, warum wir gerne ein gewaltfreies Miteinander hätten und dass Haareziehen und Beißen angewendete Gewalt und deshalb unerwünscht, ja, verboten sind.

 

Das Frage-Antwort-Schema variiert freilich nach Stimmungslage von Mutter und Kindern, die Erklärungen können kürzer oder länger, leiser oder lauter ausfallen. Und bis alle Beteiligten sich auf eine Wahrheit geeinigt, sich entschuldigt und ihren Fehler eingesehen habe, können von fünf Minuten auch durchaus bis zu zwei Tage vergehen. Denn nicht immer ist die Spurenlage so eindeutig, wie bei einem aus ohnmächtiger Wut getätigtem Biss in Juniors Oberarm oder Tochterkinds Bauch.

 

Neulich beispielsweise warf ich meinem Mann wieder einmal vor, alle meine gesammelten Einkaufswagenmünzen aus dem Auto zum Brötchenkauf verwendet zu haben. Es waren mindestens vier oder fünf Münzen, und als ich zum Einkaufen fuhr und das kleine Schubfach am Armaturenbrett aufzog, war keine einzige mehr darin. Rücksichtslos nannte ich ihn und maulte kräftig, weil er auch noch abstritt, dieses Mal der Schuldige gewesen zu sein. Nach meiner letzten Schelte habe er das Fach nicht mehr angerührt. Ich empfand das freilich als äußerst unglaubwürdig. Bis zu dem Tag, an dem ich zufällig beim Ausladen der Einkäufe mitbekam, wie mein im Auto herumturnendes Kind sich eine Münze aus dem Fach nahm, sie ins Haus brachte und in ihr Sparschwein steckte. Da war dann eine Entschuldigung bei meinem Mann fällig, den ich zum Sündenbock gemacht hatte, obwohl eines der Kinder hinter dem Münzverschwinden steckte. Im „Unfug machen“ sind die beiden eben ganz weit vorn.

 

Dennoch: Lässt man es so Revue passieren, verbringen die Kinder doch den Großteil ihres Tages und ihrer Jahre in friedlichem Miteinander. Jeder, der schon einmal in einer Wohngemeinschaft gewohnt hat, egal, ob mit Kommilitonen, Eltern, Partner oder Kind, weiß, dass es einer Menge Arbeit, Selbstreflexion und guten Willens bedarf, um das Zusammenleben friedlich zu gestalten. Meine Kinder hatten bislang wenig Einfluss darauf, wo und mit wem sie zusammenleben müssen. Ihre Bereitschaft, einander und uns zu vertrauen, Rücksicht auf andere zu nehmen und für andere da zu sein, wächst mit jedem Tag unseres Zusammenlebens.

 

Wenn man bedenkt, dass jeder der beiden durch das gemeinsame Kinderzimmer permanent in den Lebensbereich, das Empfinden und das Eigentum des anderen eingreift, ist es doch ziemlich bewundernswert, wie gut die beiden kleinen Menschen das Miteinander hinbekommen. Da könnte sich so mancher Erwachsene, der sich über die laute Musik der Nachbarn oder das Fahrrad im Hausflur oder die Socken im Wohnzimmer aufregt, doch ein großes Stück Gelassenheit von abgucken.

 

Im aktuellen Buch der Woche geht es um solch ein Zusammenleben unter Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Mitbewohner. Denn auch bei Jan und Grit zuhause passieren Dinge, die keiner so gewollt hat: Dinge verschwinden, gehen kaputt oder werden schmutzig. Und keiner will’s gewesen sein. Nur Mutter weiß im Grunde ganz genau, was ihrer Familie fehlt: Ein Sündenbock.

Kurzrezension

Bei Jan und Grit zuhause ist immer etwas los, denn sie wohnen mit Oma und Opa sowie Katze Rapunzel und Hund Herrn Moser zusammen. Natürlich sind da auch noch Mama und Papa. Und ständig ist etwas schmutzig, wie Mamas frisch geputzter Fliesenboden, oder kaputt, wie Grits Puppenwiege, oder verschwunden, wie Papas Garagenschlüssel oder Omas Kekse. Und nie ist es einer gewesen.

Jedenfalls keiner aus der Familie. Ehrlich nicht. Rapunzel nicht und Herr Moser nicht, Papa nicht, Opa nicht und Oma schon gar nicht. Eher ist es ein unsichtbarer Krimineller, der nachts ums Haus schleicht, wie in Omas Lieblingskrimi. Oder ein Klabautermann aus Opas Seemannszeit. Nur aus der Familie ist es bestimmt keiner. Oder doch?

Mama jedenfalls ahnt schon, wer was angestellt hat, und auch die kleinen Leser finden schnell heraus, wer die Kekse genommen und den Flur schmutzig gemacht hat oder wer an der Pfütze in der Küche schuld ist. Aber warum gibt es niemand zu? Papa bekommt einen roten Kopf, als ihm einfällt, dass er an Mamas Computer war, und Rapunzel tut es leid, dass sie Opas Strickzeug zerwühlt hat. Aber die Schuld geben alle doch lieber Bubu, dem Unsichtbaren.

Mama beschließt, für diesen unsichtbaren Bubu einen sichtbaren Sündenbock zu besorgen. Den stellt sie in der Wohnung auf, und jeder, der fortan seine eigene Schuld nicht eingestehen mag, der darf sie ganz bewusst dem Sündenbock zuschieben, denn dann wissen alle anderen Bescheid.

 

Der Ursprung des Wortes „Sündenbock“ wird im Anhang kurz erklärt. Diese „verdeckte Art des Geständnisses“ ist eine witzige Idee, denn manchmal fällt einem wirklich erst später ein, was man gemacht hat. Oder man hat erst später den Mut, es zuzugeben. So kann die Familie ehrlich sein, ohne sich direkt bloßzustellen.

 

Vor allem aber lädt dieses Buch dazu ein, auch einmal Fünfe gerade sein zu lassen und nicht auf dem Geständnis des anderen zu beharren. Denn schließlich macht sich jeder aus der Familie durch irgendetwas irgendwann einmal „schuldig“: Jan und Grit, Herr Moser, Oma und Opa, Rapunzel und sogar Papa. Nur Mama – und das ist das kleine Manko des Buches – macht offenbar gar nichts falsch und hat den Durchblick. Ich kann das als Mutter zwar bestätigen, wir Supermoms sind eigentlich fehlerfrei. Aber mal ganz ehrlich: Irgendwann hat Mama bestimmt auch mal irgendwas angestellt, oder?

Altersempfehlung: 4-7 Jahre
Vorlesezeit: 10-12 Minuten

Daten zum Buch „Ehrlich, ich war’s nicht“

Titel: Ehrlich, ich war’s nicht
Autor: Jutta Timm, Ursel Scheffler
Verlag: gabriel
Jahr/Auflage: 2007

ISBN: 978-3522301077

Ehrlich, ich war's nicht

TitelwahlBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt10
Titelwahl10
Aufmachung10Hardcover
DinA4
quietschorangenes Cover mit zwei der acht Familienmitglieder und einem zerbrochenen Krug
Text/Sprache10Der Text ist etwas länger, aber für LEseanfänger weitestgehend zu bewältigen. Beim Vorlesen bietet es sich aufgrund der vielen wörtlichen Rede an, jeder Figur eine eigene Stimmlage zu verleihen.
Die in Gegenwartsform geschriebene Geschichte nimmt die Kinder direkt mit in die Handlung.
Inhalt10Großeltern, Eltern und zwei Kinder sowie Hund und Katze leben unter einem Dach. Da ist es klar, dass in dem Tohuwabohu schonmal etwas verschwindet, kaputt geht oder schmutzig wird. Aber keiner will's gewesen sein, keiner gibt zu, an einer Sache Schuld zu sein. Viel lieber möchten alle einem geheimnisvollen Unbekannten die Schuld für alles in die Schuhe schieben. Nur die Mutter hat den Durchblick und weiß Abhilfe: Sie kauft einen "Sündenbock", und diesem darf jeder fortan die Schuld geben, wenn er sich nicht traut, zu sagen, dass er selbst etwas angestellt hat.
Pädagogische Themen10Familie
Zusammenleben
Ehrlich sein
Schuld zugeben
Schuld auf andere schieben
Pädagogischer Wert9Dass man oft nicht eingestehen mag, wenn man etwas angestellt hat, wird hier sehr lebensnah und lustig beschrieben. Einzig die Darstellung der Mutter als Supermom, als Einzige, die den Durchblick hat und selbst nichts angestellt hat, nervt ein bisschen.
Schlüssigkeit/Logik9Hund und Katze in der Reihe der sich verteidigenden Unschuldslämmer müssen natürlich einen Logikpunkt abtreten.
Kreativität10