Wann hab ich eigentlich genug?

Wann hab ich eigentlich genug? - Dagmar Geisler

Wann hab ich eigentlich genug?, Dagmar Geisler

„Gehen wir jetzt noch ein Geschenk kaufen?“ „Äh, neee, wieso? Du hast doch gerade ganz viele Geschenke bekommen. Sind die denn nicht toll?“ „Doch, aber ich will noch mehr Geschenke haben!“

Ein Zeitpunkt, an dem ich mich schuldig fühle: Habe ich das Kind verzogen? Habe ich es zu einem verwöhnten, ja, gar konsumgierigen, unverhältnismäßigen Ich-Menschen gemacht? Undankbar und maßlos?

„Oh, Ihr schenkt der Lütten aber viel“, bekomme ich dann auch prompt von der Tante zu hören, und ein vorwurfsvoller Ton hängt unverhohlen in der Luft. Eine Tante, wohlgemerkt, die selbst niemals ohne Geschenketüte zu uns zu Besuch bekommt und sich vor Geburtstagen der Kinder im Geschäft nie auf nur einen Kaufartikel beschränkt. „Das sind alles Sachen, die sie sich wünscht, da wird sie sich riesig drüber freuen“, rechtfertige ich mich. „Und wenn sie sich mit achtzehn einen Porsche wünscht, kaufst Du den dann auch?“ „Wenn mein Kind sich mit achtzehn einen Porsche wünscht, dann hab ich richtig was falsch gemacht“, gebe ich zurück.

 

Aber natürlich kratzt der Vorwurf an meinem mütterlichen Selbstbewusstsein. Muss ich mich zügeln, muss ich meine Kinder knapp halten, damit sie das Maß nicht verlieren? Gibt es eine gesetzlich vorgeschriebene Höchstzahl an Geschenken, ebenso wie an Kindern, die man zum Geburtstag einladen darf?

Vielleicht. Aber im Moment ist mein Gefühl beim Schenken noch zu positiv, als dass die negativen Bedenken mich vor der Kasse einholen würden. Ich sehe, nehme, zahle – alles gut. Erst beim Umladen der Ware vom Einkaufskorb ins Auto kommt der Gedanke auf, ich könnte es übertrieben haben. Dann sortiere ich zuhause das eine oder andere Ding aus, das bis Weihnachten warten kann. Ist doch praktisch, hab ich schonmal vorgesorgt. Von diesen ein bis vier aussortierten Geschenken landen dann aber doch ein oder zwei anschließend verpackt auf dem Geburtstagstisch. Weihnachten ist ja noch so weit und das Kind könnte es doch jetzt schon so gut gebrauchen.

Dann werden in der Nacht noch schnell Fotos vom gedeckten Tisch samt Kuchen gemacht und gemailt, -simst -facebooked und whatsapped. Und natürlich kommen neben Likes und Applaus auch skeptische Rückfragen: „Soooo viel?“ Und wieder ist er da, der Zweifel, und lässt mich ein kleines Päckchen vom Tisch nehmen und abwägend in der Hand hin und her schaukeln.

Verwöhne ich mein Kind zu sehr? Verziehe ich es total und unumkehrbar zu einem Konsumjunkie?

 

Nein, zum Glück nicht. Jedenfalls noch nicht. Mein Kind ist klein, sehr klein. Und jung, und alles andere als gierig oder maßlos. Denn solche Adjektive sind in diesem Alter einfach unverhältnismäßig, unangebracht, ja, irgendwie albern. Mein Kind ist ein Kind. Es liebt es, neue Dinge zu bekommen, sie auszupacken und zu entdecken, anzufassen und damit zu spielen. Es wäre seltsam, wenn mein Kind nicht mehr Geschenke haben wollte, nachdem die bereits ausgepackten es schon so begeistert hatten. Mit wenig zufrieden zu sein hat es deswegen nicht verlernt. Und dem Kind den Wert von Dingen, Geld und Arbeit nahezubringen, dafür habe ich zum Glück im Alltag genug Zeit, das muss ich nicht am Geburtstag machen.

So ein Kindergeburtstag ist nur eine Momentaufnahme, ein Tag im Jahr, an dem ein Kind ruhig maßlos mit seinen Wünschen sein darf. Denn ein Kind in diesem Alter freut sich auch maßlos über jedes noch so kleine Päckchen, über jede Karte, jeden Glückwunsch. Diese Freude miterleben zu dürfen ist für die gebenden Erwachsenen, wenn sie Auge, Ohr und Herz öffnen, ein viel größeres Geschenk, als ein Porsche.

 

Jedenfalls: Nach der Freude meiner Kinder bin ich süchtig, davon kann ich einfach nicht genug bekommen.

Kurzrezension

Dagmar Geisler packt in dem Bilderbuch „Wann hab ich eigentlich genug?“ wieder einmal ein unbequemes Thema an. Ein Thema, um das man sich als Eltern nicht gerne Gedanken macht und für dessen Behandlung es fester Überzeugungen, Standpunkte und beispielhaften Vorlebens bedarf. Ob Laissez faire, Unerzogen, bindungsorientierte Elternschaft, antiautoritäre oder strengere Erziehung – egal, wie man seinen Kindern gegenüber eingestellt ist und welches Er- und Beziehungsmodell man auch wählt, vor einer Wahrheit kann kein Elternteil die Augen verschließen:

Kinder können das Maß nicht immer automatisch, allein und selbständig erkennen und konsequent einhalten. So wie manche Erwachsene mal über die Stränge schlagen, übermüdet Auto fahren, zuviel Alkohol trinken, zuviel essen oder naschen oder gar zuviel fernsehen, so wie Erwachsene kaufsüchtig sind oder unnütze Dinge hamstern und horten bis hin zum Messiedasein, so wie manche Erwachsene permanente Anerkennung und Lob suchen und sich dafür auf Bühnen zum Narren machen – so kann es auch Kindern passieren, dass sie den Zeitpunkt, an dem sie genug von einer geliebten Sache oder Tätigkeit haben, nicht erkennen oder aber der Erkenntnis keine Verhaltensänderung folgen lassen.

 

Dieses Buch ist nicht wie eine klassische Bilderbuchgeschichte aufgebaut, sondern erzählt in aller Kürze von acht Kindern mit unterschiedlichen Sehn-„Süchten“. Lisa isst Gummibärchen, bis ihr schlecht wird, Emma bleibt beim Tauchen fast zu lange unter Wasser und Tim hat vor lauter Kuscheltieren im eigenen Zimmer kaum noch Platz. Dann sind da noch Emilia und Finn, die immer toben wollen, Lilly im Glitzerwahn, der verschmuste Paul, die fernsehsüchtige Marie und Noah, der nicht genug von Pommes bekommen kann. So unterschiedlich diese Kinder auch sind, eines haben sie gemeinsam: Sie nehmen von ihren Lieblingsdingen und –tätigkeiten eine höhere Dosis zu sich, als gut gewesen wäre. Keiner hat etwas gegen Gummibärchen oder Pommes, Bewegungsdrang ist nichts Schlechtes und auch Fernsehen ist nichts grundsätzlich Schlechtes. Aber all diese Dinge werden in dem Moment schlecht, in dem sich ihre Konsumenten nicht mehr wohl fühlen, aber trotzdem weitermachen.

Das Buch will nicht belehrend daherkommen, will nicht vorschreiben, wie viel wovon gut oder schlecht ist, sondern regt an zur Selbstreflektion: Was mag ich so gerne, dass ich oft das Maß dafür verliere? Was tut mir nicht mehr gut, wenn ich zuviel davon bekomme?

Diese Antworten kann kein Elternteil seinem Kind vorsprechen, auf diese Antworten muss jedes Kind von selbst kommen, sonst stehen die Chancen schlecht für eine lebenslange natürliche Selbstregulierung. Dagmar Geislers Buch kann Vorleser und Erstleser dazu anregen, das eigene Konsumverhalten zu überdenken, um schließlich ganz von selbst auf die Lösung aller Übermaßprobleme zu kommen: „Genug für heute. Morgen ist ja auch noch ein Tag!“

Die Altersempfehlung des Verlags „ab 3“ kann ich nicht ganz teilen. Das Thema ist doch komplexer und besonders die Zuordnung der Gefühlssätze zu den Smileys und die Überlegung, von welchen Dingen man selbst „nicht genug bekommen kann“ sind mit drei Jahren doch recht viel verlangt.

Altersempfehlung: 4-7 Jahre
Vorlesezeit: 10 Minuten

Daten zum Buch „Wann hab ich eigentlich genug?

Titel: Wann hab ich eigentlich genug?
Autor: Dagmar Geisler
Verlag: Loewe
Jahr/Auflage: 2014 / 1.

ISBN: 978-3785577653

Wann hab ich eigentlich genug?

TitelwahlBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt10
Titelwahl10
Aufmachung10Hardcover
DinA4
bunte, manchmal fast schrille Bilder, mal doppelseitig, mal in szenischen Ausschnitten, lustig, kindgerecht
Es wird viel mit Gesichtsaussdrücken gearbeitet.
Text/Sprache9Der Text ist von der Länge und Aufteilung her sehr gut für Leseanfänger geeignet. Die lockere Zuordnung der Sätze zu den Bildern und die Sprechblasen hier und da lassen den Vorleser aber schnell mit dem Finger mitwandern, um die inhaltliche Zuordnung zu verdeutlichen. Die Sprache ist verständlich und kindgerecht.
Inhalt10Dieses Buch ist nicht als Geschichte geschrieben, sondern lässt nacheinander acht verschiedene Kinder von sich und ihrer größten Leidenschaft erzählen. Es wird nur kurz auf jedes Kind eingegangen, die Individualität der Kinder und ihrer Lieblingsdinge- oder beschäftigungen werden aber dabei ebenso deutlich, wie ihre große Gemeinsamkeit: Sie müssen alle selbst erkennen, wann sie genug von etwas haben. Im Anschluss lädt eine Doppelseite spielerisch dazu ein, als Leser selbst bestimmte Aussagen den durch Smileys dargestellten Gefühlen zuzuordnen. Die letzte Doppelseite ruft den leser dazu auf, aufzuschreiben oder zu malen, wer man selbst ist und was man am liebsten mag und wann man genug davon hat.
Pädagogische Themen10Suchtprävention
Selbstwahrnehmung
physische und psychische Gesundheit
maßvoller Genuss
Pädagogischer Wert10Dagmar Geisler lädt mit ihrem Buch Eltern und Kinder ein, ihr Verhalten zu reflektieren, eigene Maßstäbe zu setzen und zu überdenken und mögliche Alternativen zu diskutieren. Dabei vermeidet sie den gefürchteten belehrenden erhobenen Zeigefinger, sondern setzt den Fokus auf die Selbstwahrnehmung der dargestellten Figuren und den Aha-Effekt beim Leser.
Schlüssigkeit/Logik10
Kreativität10