Linnea geht nur ein bisschen verloren

Linnea geht nur ein bisschen verloren, Kirsten Boie

Linnea geht nur ein bisschen verloren, Kirsten Boie, Silke Brix-Henker

Wenn ein Kind verloren geht, bricht Panik aus auf beiden Seiten: Die Eltern machen sich Sorgen und Vorwürfe und suchen an allen Orten, an denen sie sich auch nur im entferntesten den Verbleib ihres Kindes vorstellen können. Das Kind hat Angst und weiß nicht, was es machen soll. Es ist verunsichert und befürchtet, dass es am Ende vielleicht nicht einmal gesucht wird. Allen Eltern und Kindern ist zu wünschen, dass sie nie in diese Situation kommen, doch geschieht es immer wieder, weshalb es wichtig ist, das Thema „Verlorengehen“ und das angemessene Verhalten in so einer Situation anzusprechen. Dafür eignet sich dieses Buch jedoch nur bedingt.

Kurzrezension

Linnea und ihre beiden älteren Geschwister sind bei ihrem Vater. Der hat ein Video besorgt, damit die Kinder fernsehen können, während er in der Stadt nach einem neuen Autoradio sucht. Anschließend, so verspricht der Vater, gibt es für alle ein Eis.
Linnea will aber unbedingt mitgehen. Ihrem Vater ist das nicht recht und es beginnt ein für beide Seiten anstrengender Nachmittag, in dessen Verlauf sich die gelangweilte Linnea mit ihrer Puppe selbst eine Beschäftigung sucht. Ihr Vater bemerkt erst spät, dass sie verschwunden ist, und ruft nach ihr. Doch das Kind findet, es könne den Vater ruhig ein bisschen warten lassen, und hält sich versteckt.
Doch dann hört Linnea ihren Vater nicht mehr rufen. Als sie aus ihrem Versteck auftaucht, sieht sie ihn auch nicht mehr. Sie fängt an, ihn zu suchen, und gerät mehr und mehr in Panik, weil er nicht mehr da ist. Eine Verkäuferin will ihr helfen und ihren Vater über das Mikrofon im Kaufhaus ausrufen. Linnea befürchtet, dass das auch von anderen Bekannten gehört werden könnte, deshalb nennt sie einen falschen Namen. Trotzdem folgt ihr Vater dem Ausruf und findet sie somit wieder. Er reagiert weder besonders glücklich noch besonders wütend, eher genervt. Linnea verrät ihm weder, warum sie sich einen anderen Namen gegeben hat, noch, wo sie sich versteckt hatte. Die beiden fahren nach Hause. Linnea erklärt ihren Geschwistern, dass sie und ihre Puppe sich nicht gelangweilt hätten, und alle essen das versprochene Eis von Papa.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein vielleicht antiquiertes, vor allem aber ein klischeebeladenes Bild einer Vater-Kind-Beziehung dargestellt wird. Es wäre müßig, über die Gründe zu spekulieren, aber man muss konstatieren, dass es dem Buch nicht gut tut.

Kritikpunkte:
Es ist „Einmal-im-Monat-Papa-Besuchs-Wochenende“. Das ist reichlich wenig Zeit, die die drei Kinder mit ihrem Vater verbringen. Trotzdem lädt der Vater seine Kinder vor dem Fernseher ab, um ein Autoradio zu kaufen. Als Ausgleich fürs Alleinlassen verspricht der Papa den Kindern ein Eis. Hier häufen sich die vaterfeindlichen Klischees bereits auf der ersten Seite.
Linnea erweist sich als ein neunmalkluges Kind, das ihrem Vater erklärt, Fernsehen sei nicht gut für Kinder. Verständlich ist, dass Linnea mit ihm gehen will, da sie ihren Papa wohl ohnehin sehr selten sieht. Aber unglücklich wird sie hier als manipulativ hingestellt, wenn sie ihm droht: „Sonst haben wir Mama lieber als dich.“
Während der Suche nach dem ach so wichtigen Autoradio verweigert der Papa aus Eile seinem Kind etwas zu essen. Er argumentiert, dass es ja später noch Eis geben würde. Noch ein Klischee: Kinder mit der Aussicht auf etwas Süßes zu vertrösten und ruhigzustellen – typisch Mann? Mehr kann der Papa einmal im Monat offenbar nicht bieten? Dabei wünscht sich Linnea doch ganz offensichtlich seine Aufmerksamkeit. Sie drückt auf Knöpfe und klettert in Waschmaschinen. Der Vater schreit sie deshalb an, zieht sie weiter, hetzt mit ihr durch diverse Geschäfte. Das grobe, rücksichtslose Verhalten des Vaters spiegelt sich in keinster Weise in den Zeichnungen, in denen er eher trottelig und hilflos wirkt. Dieses harmlose Männchen ist einfach nicht in der Lage, auf sein Kind einzugehen, so wenigstens wirken die Bilder.
In diesem Tenor geht die Geschichte dann auch weiter: Der Papa bemerkt nicht, dass sein Kind, im vierten Stock des Kaufhauses angekommen, gar nicht erst mit in die Technikabteilung kommt. Es vergeht eine ganze Weile, bis er überhaupt nach ihr ruft und sie sucht, nachdem die nächste Beratung zum Autoradio beendet ist.
Linnea gibt gedanklich dem Papa die Schuld daran, dass sie mit Schuhen in ein Ausstellungsbett krabbelt, obwohl sie weiß, dass man das nicht machen soll. Die Naseweisheit von Linnea, die in dem Satz „Mamas verlieren ihre Kinder nämlich nicht“ gipfelt, kommt eher unsympathisch denn niedlich daher. Und schließlich wird das sonst so vorlaute Kind ganz kleinlaut, weil der Papa plötzlich weg ist. Sie denkt sogar, dass er froh sein könnte, sie los zu sein. Was für ein Bild einer Vater-Kind-Beziehung soll hier eigentlich dargestellt werden? Wie sollen kleine Kinder, denen diese Geschichte vorgelesen wird, von „Wochenendvätern“ denken? Welche Gefühle mag das bei Trennungskindern auslösen, die einen Elternteil selten sehen?

Die Verkäuferin im Kaufhaus wird von Linnea angelogen, was ihren Namen angeht. Das ist mehr als unlogisch. Ein Kind, das so panisch nach seinem Vater sucht, lügt, weil niemand wissen soll, dass sie verloren ging? Auch als der Vater seine Tochter schließlich wieder hat, ändert sich seine ihr gegenüber genervte Haltung nicht wirklich. Trotzdem ist Linnea am Ende wieder naseweis und erklärt ihren Geschwistern, wie toll sie und ihre Puppe den Tag mit Papa fanden.
Man kann Mängel in der Logik und im Erzählfluss gerne unter den Tisch fallen lassen, wenn es darum geht, eine wichtige, vielleicht gar pädagogisch wertvolle Botschaft zu übermitteln. Was jedoch Vorleser und Kinder aus dem Verhalten von Linnea und ihrem Vater schließen sollen, darf man sich hier zu Recht einmal fragen.

 

Altersempfehlung: 4-6 Jahre
Vorlesezeit: 10-15 Minuten

Daten zum Buch „Linnea geht nur ein bisschen verloren“

Titel: Linnea geht nur ein bisschen verloren
Autor: Kirsten Boie, Silke Brix-Henker
Verlag: Oetinger
Jahr/Auflage: 1999/2.

ISBN: 978-3789163357

 

Linnea geht nur ein bisschen verloren

TitelwahlBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt7
Titelwahl8Was mit dem "nur ein bisschen" gemeint sein soll, erschließt sich nicht. Es nimmt jedenfalls die Dramatik aus dem Thema und schwächt es ab.
Aufmachung9Hardcover
die Zeichnungen sind ganz- und teilweise doppelseitig und recht authentisch, allein die Ausstrahlung Linneas ist irgendwie gar nicht niedlich, fast sogar unsympathisch, und das will bei so einem kleinen Kind schon etwas heißen.
Text/Sprache6Die Sprache ist nicht sehr vorlesefreundlich. An einigen Stellen muss man schon sehr geübt betonen oder absetzen, damit die kleinen Zuhörer verstehen, was direkt gesagt und was beschrieben wird, Beispiel: ">Und außerdem hat meine Linni Hunger, Papa<, sagt Linnea, als sie hinter Papa her zum nächsten Geschäft läuft. Papa hat so schnelle Beine. >Und ich auch, übrigens.<"
Für Erstleser sind die Sätze teilweise zu lang und verschachtelt, Beispiel: "Lauter Betten mit vornehmen Bezügen, wie Mama überhaupt keine hat, stehen herum, und ein Bett hat sogar ein wunderbares blaues Kopfkissen mit einer Maus darauf, die hat eine zipfelige Schlafmütze auf dem Kopf und trägt einen altmodischen Kerzenhalter vor sich her und ist so niedlich, dass Linnea es fast gar nicht aushalten kann."
Für ältere Kinder fehlt die Identifikationsmöglichkeit mit der kleinen Hauptfigur - wer also soll diesen Text lesen?
Die Sprache des Kindes ist auch nicht sehr authentisch. Ein "Lalalalalaaa" würde von einem Kind doch eher "gesungen", als "gesagt" werden, und der Zusammenhang dieser Artikulation geht aus dem Text überhaupt gar nicht hervor. Auch das an ihre Aussagen angehängte Wort "übrigens" passt nicht sehr in einen kindlichen Satzbau.
Inhalt6Es ist Papa-Wochenende, und der hat extra einen Zeichentrickfilm für seine drei Kinder besorgt, die ihn einmal im Monat besuchen. Doch das jüngste Kind, Linnea, will lieber mit einkaufen gehen, statt fernzusehen. Genervt nimmt Papa sie mit und durchsucht etliche Technikgeschäfte nach einem Autoradio. Ob er eines findet, geht nicht aus der Geschichte hervor. Aber das Autoradio ist so wichtig für den Papa, dass er während einer Beratung im Kaufhaus nicht merkt, wie sein Kind sich auf den Weg in eine andere Abteilung macht und es sich dort unter einer Bettdecke gemütlich macht. Als er sie vermisst und nach ihr ruft, findet Linnea, dass er nn ruhig auf sie warten kann. Doch dann ist Papa plötzlich weg und Linnea bekommt Panik. Zum Glück kann man im Kaufhaus eine Durchsage machen, und obwohl Linnea einen falschen Namen angibt, findet der Papa sie wieder und zuhause bekommen alle Kinder das längst versprochene Eis.
Pädagogische Themen10Verlorengehen
Getrennt lebende Eltern / Papawochenenden
Scheidungskinder
Langeweile
Weglaufen
Angst haben
Lügen
Pädagogischer Wert5Dieses Buch spricht eine Menge relevante Themen an, aber mit einer Vater- und Kindfeindlichen Betrachtungsweise, dass es schwerfällt, etwas Positives zu bilanzieren. Immerhin wird der Focus darauf gelegt, dass Kinder sich nach Aufmerksamkeit ihrer Eltern sehnen und aus diesem Grund schonmal unvorhergesehen agieren.
Schlüssigkeit/Logik7Vor allem dass Linnea im Kafhaus einen falschen Namen angibt, als die Verkäuferin ihren Vater ausrufen will, ergibt aus Sicht eines panisch ängstlichen Kindes keinerlei Sinn.
Kreativität10