Die Mutter ist der Mensch, der da ist für das Kind, von der ersten Minute an, immer, bedingungslos Liebe schenkt und Fürsorge – ein Idealbild. Was aber, wenn die Mutter dieses Idealbild nicht erfüllen kann?
Kurzrezension
Fridis Mutter ist anders, als die anderen Menschen. Viele sagen deshalb, sie sei verrückt. Das mag Fridi aber nicht glauben.
Natürlich ist es ihr aufgefallen, dass Mama die halbe Nacht im Sessel sitzt und in die Dunkelheit starrt. Sie lächelt nicht viel, sie sagt nicht viel. Sie zeigt Fridi melancholische Bilder und liest ihr traurige Gedichte vor.
Aber wenn Mama ihre Querflöte spielt, dann ist die Welt um sie herum wie verzaubert. Papa meint, Mama sei eine Fee. Deshalb müsse sie manchmal in die Welt der Feen, die Welt der Dunkelheit gehen. Aber sie würde immer zu ihnen zurückkehren, sagt Papa, denn eine Fee bleibt bei den Menschen, denen sie sich zu erkennen gegeben hat.
Die Welt der Dunkelheit – das ist die unausgesprochene Depression von Fridis Mutter. Sie bewirkt, dass Fridis Mutter im Alltag nicht mehr funktioniert. Sie gibt keinen Flötenunterricht mehr, sie bleibt im Nachthemd und irgendwann steht sie nicht einmal mehr auf, um mit Fridi und Papa zu essen.
Fridi übernimmt Aufgaben im Haushalt, sie deckt den Tisch, sie staubsaugt. Papa spült ab. Alles geht irgendwie weiter. Aber Fridi wird wütend. Eine Fee muss doch schön sein und alle Welt verzaubern, meint sie. Sie kann ihre Mutter aber überhaupt nicht schön finden, trist, wie sie wirkt, im Nachthemd und mit ungekämmtem Haar. Und sie verzaubert auch niemanden mehr mit ihrer Musik. Papa erklärt, dass Mama sehr wohl schön ist und Musik macht – man muss nur ganz genau hinsehen und lauschen.
Dann kommt der Moment, in dem die Menschen sagen: „Die bringen deine verrückte Mutter weg.“ Der Moment, in dem Fridis Mutter eingewiesen wird, ist der Moment, in dem Papa und Fridi beide daran glauben wollen, dass sie nur in die Welt der Feen geht. Es scheint, als wolle Fridis Vater nicht nur seiner Tochter einen Trost geben mit seiner Umschreibung, sondern sich auch selbst daran festhalten. Es bleibt den beiden nichts, als zu warten und fest daran zu glauben, dass die Mutter, die Fee, immer wieder zurückkommen wird, um wieder Zauber in ihr Leben zu bringen.
Dieses Buch ist sehr ruhig geschrieben und gezeichnet und trägt durch Bilder und Text eine Schwere und Traurigkeit in sich, die dem Leser eine Ahnung davon geben mögen, wie sich die Angehörigen depressiver Menschen fühlen können.
Die Zielgruppe ist natürlich sehr eingeschränkt, doch das Buch eignet sich auch zum Vorlesen für Kinder, in deren weiterem Umfeld, ob Verwandschaft oder Freundeskreis, ein Mensch mit Depressionen kämpft. Das Buch gibt keine Antworten auf das Wie und Warum einer depressiven Erkrankung und kein Rezept, wie damit umzugehen wäre.
Aber es regt dazu an, sich auf das schwierige Thema einzulassen, es nicht auszublenden, zu unterdrücken, totzuschweigen oder zu verheimlichen. Fridis Papa hat sich einen Weg gesucht, die Krankheit der Mutter anzunehmen. Und auch wenn dies eine sehr ungewöhnliche Umschreibung ist und Kinder die Welt der Feen üblicherweise eher farbenfroh statt dunkel und trist sehen, so ist es doch beruhigend, anzunehmen, dass der depressive Mensch irgendwann wieder in die Welt der Familie zurückkehren wird. Vielleicht wird auch Fridis Familie eines Tages wieder ein so fröhliches, unbeschwertes Bild abgeben können, wie es gerahmt auf dem Wohnzimmertisch steht.
DIe Zeichnungen geben die Stimmungslage der Geschichte wieder, die Feenflügel der Mutter werden durch Strichlinien angedeutet und sind Seite für Seite ein kleiner Trost und Hoffnungsschimmer angesichts des fahlen, glanzlosen Blickes der depressiven Frau.
Altersempfehlung: 7-8 Jahre
Vorlesezeit: 10-12 Minuten
Daten zum Buch „Meine Mutter, die Fee“
Titel: Meine Mutter, die Fee
Autor: Nikola Huppertz, Tobias Krejtschi
Verlag: Tulipan
Jahr/Auflage: 2018/1.
ISBN: 978-3864293696
Meine Mutter, die Fee
Kriterium | Bewertung (1-10) | Begründung |
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Punkte gesamt | 10 | |
Titelwahl | 10 | |
Aufmachung | 10 | gebunden, Querformat, gedrückte, triste Bilder mit Details für die erwachsenen Vorleser, wie Wandposter und Bilder, aufgeschlagene Gedichtbände die Bilder tragen die Stimmung der Geschichte |
Text/Sprache | 9 | Die Geschichte wird aus der Sicht der kleinen Tochter Fridi in Ich-Form erzählt. Die Vergangenheitsform der Krankheitsgeschichte lässt diese allerdings als zu weit weg erscheinen. Die Erzählung springt ins Präsens über, als die Mutter schon zehn Tage fort ist. Der große Abstand lässt leider auch Fridis Emotionen, die Wut, die Hilflosigkeit, das Unverständnis weit weg, vergangen erscheinen. Dieser Zeitenwechsel schafft eine Distanz. |
Inhalt | 9 | Fridis Mutter hat sich verändert. Plötzlich pflegt sie sich nicht mehr, ist traurig und müde, steht immer weniger auf, zieht sich nicht an. Sie hat Depressionen. Fridis Vater erklärt, ihre Mutter sei ein Wesen aus einer anderen Welt, eine Fee. Fridi kann das kaum glauben, sie zweifelt, hinterfragt, ist wütend. Doch nach und nach nimmt sie die Version ihres Vaters an, denn es ist tröstlich, zu glauben, dass ihre Mutter, die Fee, immer wieder zurückkehren wird aus der Welt der Dunkelheit. |
Pädagogische Themen | 10 | Familie Krankheit Depression Trost Wut |
Pädagogischer Wert | 10 | Fridis Gefühle werden zugelassen, sie darf wütend sein darüber, dass ihre Mutter krank ist. Der Vater, selbst gebeugt und hilflos, spendet Trost, indem er die schwer begreifliche Krankheit der Mutter umschreibt. |
Schlüssigkeit/Logik | 10 | Es ist nur allzu verständlich, dass Eltern für ihre Kinder versuchen, Wahrheiten in ein anderes Licht zu setzen. Das Motiv erinnert ein wenig an den Film "Das Leben ist schön": Das kaum Fassbare, das man nicht beeinflussen kann, wird mit Phantasie umschrieben, um es irgendwie zu ertragen. |
Kreativität | 9 |