Wie schützt man Kinder vor Missbrauch? Die Kinder zu stärken und ihre Grenzen zu wahren ist ein erster hilfreicher Schritt.
Kurzrezension
Dass Bilderbücher zu diesem Thema nötig sind, ist schlimm genug. Aber wie vorsichtig man auch beim Entwerfen eines solchen Buches sein muss, zeigt schon der dritte Satz im Vorwort, in dem Pro Familia Darmstadt klarstellt: „Sie finden hier keine Darstellungen von sexuellem Missbrauch.“ Worum es geht, wird dem Vorleser trotzdem klar: Sexueller Missbrauch wird massiv erleichtert, wenn ein Kind nicht weiß, dass es selbst bestimmen darf, wann, wie, wo und von wem es berührt und angefasst wird. Wie gut dies dem Kind klar wird, hängt stark vom Vorleser ab.
An Stereotypen kommt das Buch leider nicht vorbei. Es geht um Clara, ein Mädchen im Grundschulalter. Wir Erwachsenen wissen, dass Jungen ebenfalls Opfer sexuellen Missbrauchs werden. Daher wäre eine Thematisierung mit Junge und Mädchen oder einem Kind, dessen Geschlecht nicht genannt wird, hilfreich.
Die Aussage „Ich bin stolz auf mich und meinen Körper“ ist auch nicht ganz optimal gewählt. Wichtiger als Stolz ist doch, sich selbst zu lieben und seinen Körper zu achten. Seinen eigenen Körper anzunehmen, wie er ist, ist oft schwierig und heikel, gerade im Wachstum. Diese Selbstliebe zu fördern und zu stärken mag Intention der Aussage sein, das Wort ist nur unglücklich gewählt.
Berührungen sind im Alltag eines Kindes etwas ganz Selbstverständliches. Kuscheln mit den Eltern, balgen mit den Freunden, sich an den Händen halten – all das kann für ein Kind sehr schön sein, ihm Sicherheit und ein Wohlgefühl geben. Aber nur dann, wenn es diese Berührungen, diese Nähe will.
Das kann von der Tagesstimmung, aber auch von dem Gegenüber abhängen. Hier werden ein älterer Mann beim Durchkitzeln und eine aufdringliche Frau beim Kussaufschmatzen als Beispiele für Alltagssituationen herangezogen, in denen von außen betrachtet „ja nichts passiert“, doch für das Kind ganz klar eine Grenze überschritten wird: Egal, wie lieb ich Opa oder Tante hab, manchmal möchte ich nicht angefasst oder geküsst werden. Dies zu erkennen, für sich selbst diese Entscheidung als „in Ordnung“ zu akzeptieren und dann auch noch mit einem kräftigen „Nein“ für die eigene Entscheidung einzustehen – das ist die Herausforderung für das Kind.
Ein schlabbernder Hund, ein größerer Junge, der den Arm um Clara legen will und ein weiterer älterer Mann, der sie umarmen will ergänzen die Abbildungen von Alltagssituationen, in denen man das Kind ermutigen möchte, ganz klar „Nein“ zu sagen, wenn es etwas nicht möchte.
Gleichzeitig will das Buch Kindern nicht einreden, dass Berührungen und Nähe grundsätzlich schlecht sind. Das Kind soll entscheiden, welche Berührungen es mag, und welche nicht.
Auf das eigene Wohlgefühl zu hören ist etwas, was man lernen kann. Das eigene Gefühl als richtig und wichtig zu erachten ist etwas, dass wir Erwachsenen in den Kindern bestärken müssen. Nur wer die Gefühle der Kinder erkennt und respektiert kann darauf hoffen, dass die Kinder sich jemandem anvertrauen, wenn sie in eine Situation geraten, in der andere ihre Grenzen überschreiten.
Das Buch bleibt bei Andeutungen. Das Thema „Geheimnisse haben“ im Zusammenhang mit Grenzüberschreitungen, das Einreden von falschem Scham- oder gar Schuldgefühl durch die Täter, was oft zu jahrelangem Missbrauch führt, wird leider ausgespart. Dennoch ist das Buch ein guter und wichtiger Ansatz, mit Kindern über die Gefahr des Missbrauchs zu sprechen und sie in ihrem Selbstbewusstsein zu fördern.
Das Thema „Missbrauch durch Vertrauenspersonen“ könnte zumindest angesprochen werden. Dadurch, dass die Grenzüberschreiter in diesem Buch immer nur abstrakt als „jemand“ bezeichnet werden, muss man als Vorleser selbst entscheiden, inwieweit man im Gespräch konkretere Bezeichnungen nutzt. Denn dass dieser jemand auch Vater, Mutter, Onkel, Tante, Nachbar oder Lehrer und Lehrerin sein könnte, ist ja gerade das Unfassbare, was auch die selbstbewussten Kinder in der konkreten Gefahrenlage und alle anderen Vertrauenspersonen oft so ohnmächtig werden lässt.
Altersempfehlung: 5-7 Jahre
Vorlesezeit: 8 Minuten
Daten zum Buch „Mein Körper gehört mir!“
Titel: Mein Körper gehört mir!
Autor: Pro Familia, illustriert von Dagmar Geisler
Verlag: Loewe
Jahr/Auflage: 2008/4.
ISBN: 978-3785544358
Mein Körper gehört mir!
Kriterium | Bewertung (1-10) | Begründung |
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Punkte gesamt | 10 | |
Titelwahl | 10 | |
Aufmachung | 10 | Hardcover DinA4 einfache Bilder ohne zu viele ablenkende Details, gute Mimik der Hauptfigur |
Text/Sprache | 10 | Der Text besteht aus kurzen Statements, ungewöhnlich klar und fast barsch, daher ist die Sprache für Kinder oft neu und ungewohnt, aber in den geschilderten Situationen brauchbar |
Inhalt | 10 | Dies ist keine Geschichte, sondern eine Schilderung von Situationen und Gefühlen. Zu jedem Bild gibt es nur eine klar formulierte Aussage in ein bis zwei Zeilen. |
Pädagogische Themen | 10 | Missbrauchsprävention Selbstbewusstsein klare Ansagen/Grenzen Selbstbestimmung |
Pädagogischer Wert | 10 | Der Wert dieses Buches liegt in seiner Notwendigkeit. Es ist wichtig, mit Kindern darüber zu sprechen, dass sie allein bestimmen, wer sie berühren darf. Und auch für den Vorleser ist es gut, zu reflektieren, ob er alles dafür tut, die Grenzen seiner Kinder zu wahren. |
Schlüssigkeit/Logik | 9 | Ein bisschen scheut sich auch dieses Buch, trotz aller Klarheit die Kernbotschaft/das Kernthema ganz deutlich auszusprechen, es wird sehr allgemein gehalten. Es fehlt auch ein Hinweis darauf, dass es gerade auch eine vertraute Person sein kann, die das Vertrauen des Kindes missbraucht. |
Kreativität | 8 |