Keiner hat mich lieb, findet Josefine

Keiner hat mich lieb, findet Josefine, Tove Appelgren, Salla Savolainen

„Ich will heute nicht in den Kindergarten! Kindergarten ist doof“ Dieser Ausruf von einem Kind, das den Kindergarten vom ersten Tag an geliebt, schnell Freundschaften geschlossen und sich sehr gut eingefunden hat in die Gruppe, ist ungewöhnlich.

Es gibt Tage, da verstehe ich mein Kind überhaupt nicht. Was es sagt, was es tut, wonach es verlangt – all das ist für mich oftmals nichts als ein großes Rätsel.

Nicht in den Kindergarten zu wollen – das ergibt doch eigentlich nur Sinn, wenn etwas ganz Schlimmes dort vorgefallen ist, oder? Also forsche ich nach, befrage Kind, Erzieher und andere Eltern. Es lässt sich aber kein Verdacht hegen, alles ist wie immer. Aber es MUSS doch etwas anders sein, oder?

Oder eben nicht. Es muss nichts vorgefallen sein, es muss sich nichts verändert haben. Das Einzige, was heute anders ist, ist das Gefühl meines Kindes. Manchmal will es eben einfach nicht in den Kindergarten. Vielleicht braucht es gerade etwas Zeit zuhause, mit den Eltern oder Geschwistern oder einfach nur mit sich und seinen Gedanken und Gefühlen.

Bring ich mein Kind an so einem Tag trotzdem mit sanftem Druck in den Kindergarten, hab ich den ganzen Vormittag über ein schlechtes Gewissen, den Wunsch des Kindes übergangen zu haben. Im Kindergarten aber läuft alles wie immer, super, ohne Probleme und sogar mit Protest, wenn ich mein Kind abholen will. Denn: „Nach Hause ist doof.“

 

Es gibt Erziehungsrichtungen, die in so einem Fall ein hartes Durchgreifen fordern würden, denn schließlich „will das Kind nur seinen Willen durchbringen“, mir „auf der Nase herumtanzen“, und da dürfe man sich „nicht auf Spielchen einlassen.“ Und natürlich bin auch ich nicht immun dagegen, meinem Kind böswillige Absichten zu unterstellen, vorneweg jene abstruse, mich unbedingt ärgern und wütend machen zu wollen.

Aber folge ich diesem Eindruck einmal nicht blind, erkenne ich ziemlich schnell, dass es hier nicht um als böse Strategie und Machtspielchen zu erklärende Verhaltensweisen geht, sondern schlicht um Gefühle. Gefühle, soviel weiß ich aus vierzig Jahren Lebenserfahrung, müssen nicht logisch, verständlich und behandelbar sein. Gefühle sind in allererster Linie erst einmal DA. Man kann versuchen, sie zu unterdrücken, zu steuern, zu kontrollieren oder zu ignorieren. Oder man lässt sie zu – und raus.

 

Irgendwann im Leben wird es Situationen geben, da ist es vielleicht besser, wenn man nicht jedes Gefühl mit voller Wucht herauslässt. Aber mein Kind ist im Vorschulalter. Es muss kein Gefühl unterdrücken. Es darf jedes Gefühl, egal, wie unverständlich und unangebracht es einem erscheinen mag, erst einmal ungebremst herauslassen.

 

Das tut es übrigens auch gekonnt. Täglich. Zurzeit sind es überdurchschnittlich viele doofe Gefühle, die sich verbal beispielsweise in „Blöde Mama“, „Ich wiiiiiiilllll aaaaaaaber“, „Dann zieh ich eben aus“ oder „Brüder sind doof!“ äußern.

 

Ich muss mich dann immer wieder daran erinnern, dass es weniger wichtig ist, zu verstehen, warum genau mein Kind wütend oder traurig ist, als einfach zu verstehen, DASS es sich nun einmal im Moment so fühlt – und deshalb meine Liebe mehr als sonst braucht. „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, denn dann brauche ich es am meisten“ ist ein oft gelesenes Zitat ohne richtigen Quellennachweis. Auch wenn man bei elterlicher Liebe nicht von Verdienst sprechen kann, trifft der Spruch doch manchmal einfach zu.

 

Und wenn ich es dann hinbekomme, mich von den wüsten Beschimpfungen, dem Türenknallen und Aufstampfen nicht selbst in Rage bringen zu lassen, sondern für mein Kind da bin, wenn es zu mir kommt, dann teilt es mir auch seine positiven Gefühle ehrlich und direkt mit: „Mama, ich hab dich lieb.“ Und das sagt mir mein Kind auch dann, wenn ich das Gefühl habe, es überhaupt nicht verdient zu haben.

Kurzrezension

Eigentlich scheint alles gut zu sein. Josefine spielt mit ihrer kleinsten Schwester Freja. Doch dann will Wendla, Josefines andere Schwester, auch mitspielen. Josefine möchte das nicht. Als Mama sich einmischt und vorschlägt, wie man Wendla in das Spiel einbeziehen könnte, wird Josefine ganz wütend und will überhaupt nicht mehr spielen.

Sie läuft Richtung Strand. Doch dann überlegt sie es sich anders und will Mama erstmal ihre Meinung sagen, nämlich, dass sie sich grundsätzlich ungerecht behandelt fühlt. Doch bei ihrer Rückkehr muss sie feststellen, dass Wendla und Freja inzwischen IHR Spiel mit IHRER Verkleidung weiterspielen. Josefine wird noch wütender. Sie reißt Wendla ihren Schleier ab. Von dem Chaos und Geschrei wird Mama aufmerksam, doch Josefine will gar nicht erst hören, was Mama zu sagen hat. Josefine weiß nämlich, dass es wieder nur darauf hinauslaufen würde, dass sie an allem Schuld ist und dass sie etwas ändern muss. Denn Wendla und Freja sind ja kleiner als Josefine.

Obwohl Mama also eigentlich noch gar nichts gesagt hat, brodelt es in Josefine. Auf ihrem Stein im Schilf denkt sie tiefschwarze Gedanken. Sie ist überzeugt davon, dass keiner aus der Familie sie eigentlich überhaupt lieb hat, und zwar, weil sie das Mittelkind ist. Höchstens Oma. Die sagt nämlich immer, dass Mittelkinder es am schwersten haben. Die anderen aber würden Josefine nicht einmal vermissen, wenn sie tot wäre.

 

Josefine stellt sich ihre Beerdigung vor, auf der sicher niemand weinen würde, außer eben Oma und ihr echter Papa. Denn Papa Viktor ist ja nur der Papa von den beiden jüngeren Schwestern. Das Mädchen malt sich ihren Tod sehr genau aus, da kommt ausgerechnet Wendla fröhlich vorbei. Aber wenn es etwas gibt, was einen wütenden Menschen in Rage bringt, dann ist es ein fröhlicher Mensch. Prompt bekommt Josefine also einen neuen Wutanfall, was die Lage nicht besser macht. Sie mag deshalb auch nicht zu den anderen zurückgehen, und es scheint auch niemanden zu interessieren, ob sie dabei ist.

Ein bisschen suhlt sich Josefine in ihrem Selbstmitleid. Doch dann kommt Mama doch ins Schilf, und sie schimpft nicht einmal. Sie möchte nur wissen, warum Josefine so wütend ist. Aber das weiß Josefine eigentlich auch nicht. Sie fühlt sich eben einfach mies und schickt Mama wütend weg. Jetzt ist Mama auch wütend und geht.

Als der große Bruder Paul ihr etwas zu essen bringt, verraucht Josefines Wut langsam und weicht einem Gefühl, das eher traurig ist. Und das bringt sie auf eine Idee. Sie beschließt, dass heute alle ihre Beerdigung spielen sollen, und es soll ganz traurig sein. Bei diesem Spiel weint sogar Wendla. Vielleicht, weil sie Josefine doch lieb hat? Mama aber dämmert es wohl, was in ihrem Kind vor sich geht, und so überlegt sie sich auch etwas, damit sich Josefine wieder von ihr geliebt fühlen kann.

 

 

Auf sehr authentische und auch humorvolle Weise wird hier ein nicht zu unterschätzendes Thema angesprochen. Die Gefühle mittlerer Kinder, dazu noch in einem Patchwork-Familienmodell, sind nicht immer logisch und einfach zu begründen, und schon gar nicht leicht zu bewältigen. Vielleicht müssen sie auch gar nicht bewältigt, zurückgehalten und kontrolliert werden, sondern dürfen raus, wenn sie überhandnehmen. So wie bei Josefine. Es sind Gefühle, die gar nichts mit der direkten Situation zu tun haben müssen. Sie schwelen und brodeln in dem Kind und die Ausbrüche sind nicht rational, sondern eben einfach heftigst emotional. Auch wenn Josefines Gefühlen mit Vernunft nicht beizukommen ist, so bedarf es doch Weitsicht, Umsicht und großer Vernunft, sie wahrzunehmen und anzunehmen. Ein Übergehen dieser Gefühle, ein Ignorieren gar wäre für das um Hilfe rufende Kind eine Katastrophe.

Josefines Familie versteht vielleicht nicht ganz, warum Josefine wütend und traurig ist, aber sie lassen sich auf ihren Weg, mit der Traurigkeit umzugehen, ein und teilen ihr Gefühl. Und die Mutter nimmt sich endlich einmal wieder nur Zeit für ihr mittleres Kind, das sie doch genauso lieb hat, wie die anderen drei.

 

Ein tolles Kinderbuch, dass die Situation aus Sicht der kleinen Josefine sehr authentisch, gefühlvoll und auch humorvoll betrachtet.

Altersempfehlung: 4-7 Jahre
Vorlesezeit: 10 Minuten

Daten zum Buch „Keiner hat mich lieb, findet Josefine“

Titel: Keiner hat mich lieb, findet Josefine
Autor: Tove Appelgren, Salla Savolainen
Verlag: Oetinger
Jahr/Auflage: 2010

ISBN: 978-3789162770

Keiner hat mich lieb, findet Josefine

KriteriumBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt10
Titelwahl10
Aufmachung10Hardcover, DinA4, lustige und ausdrucksstarke Zeichnungen, auch die Details sind liebevoll und witzig
Text/Sprache10Der Text ist einfach und gut vorzulesen, vor allem die Stimmungen der Figuren lassen sich in den einfachen, klaren Worten gut wiedergeben. Die Länge eignet sich auch gut für Leseanfänger.
Inhalt10Ein Haus am See mit Sauna, was gibt es Schöneres für einen entspannten Familienurlaub. Doch für Josefine ist überhaupt nichts entspannt, sie steht unter einem inneren Druck. Sie fühlt sich ungerecht behandelt, ja, gar ungeliebt. Und die kleinste Unstimmigkeit bringt bei ihr das emotionale Fass zum Überlaufen. Sie stellt sich vor, sie sei tot, und sie ist sich sicher, dass niemand auf ihrer Beerdigung weinen würde. Oder doch? Um das herauszufinden, muss die Familie Josefines Beerdigung spielen. Und so langsam dämmert es auch Mama, was in ihrem Kind vor sich geht, und sie ergreift die Initiative und unternimmt etwas - ganz allein mit Josefine.
Pädagogische Themen10Familie
Liebe
Eifersucht
Einsamkeit
Angst
Geborgenheit
Gefühl des Ungeliebtseins
Pädagogischer Wert10Dieses Buch spricht ein elementar wichtiges Thema an: Die Angst eines Kindes, nicht geliebt zu werden.
Schlüssigkeit/Logik9Josefines Gefühlsausbruch kommt etwas überraschend, doch ihre Sorgen müssen schon länger in ihr brüten. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der alle Josefines eigenartigen Spielvorschlag annehmen, kommt sehr überraschend. Wer Josefine nicht kennt, kann nicht erschließen, ob die Geschichte an einem Ferienort oder zuhause spielt.
Kreativität10