Der Baum der Erinnerung

Der Baum der Erinnerung

Der Baum der Erinnerung, Britta Teckentrup

„Mama, Georg ist gestorben.“ „Ja, Schatz, das ist aber schon länger her.“ Dieser Gesprächsbeginn kommt wie aus heiterem Himmel zu uns und wiederholt sich alle paar Monate, ohne dass es sich erschließen würde, warum gerade in jenem Moment.

Georg war der Nachbarshund. Er war das erste Lebewesen, dessen Tod mein Kind bewusst wahrgenommen hat. Deshalb ist und bleibt auch die Erklärung der Nachbarin, was nun aus Georg geworden ist, für einige Zeit ihre Wahrheit zum Thema Tod und Weiterleben. Bislang habe ich einfach noch keinen Grund gesehen, das Thema zu vertiefen oder auf die religiöse Ebene zu heben. Dafür bleibt noch Zeit und es ist so ein komplexes Thema. Es in einfache Worte zu packen, das können andere so viel besser als ich.

„Jetzt ist er ein Stern am Himmel“, sagt mein Kind also mit ehrlicher Überzeugung in der Stimme. „Kann sein, ich weiß es nicht“, bleibe ich vage. „Doch, so wie meine Oma Helga. Die ist auch schon gestorben und ist jetzt ein Stern.“ „Das ist aber noch länger her“, werfe ich ein, als ob das etwas am Status quo ändern würde. „Ja“, nickt mein Kind bestätigend. „Als ich noch nicht geboren war. Und jetzt ist sie ein Stern.“

 

Bei meinem Kind ist der Tod immer mal wieder Thema. Dass es so plötzlich aufkommt, ist für Eltern nicht greifbar und verständlich. „Warum beschäftigt sich so ein kleiner Mensch schon mit so einem traurigen Thema?“, fragt man sich, und verdrängt dabei wie so oft den bedeutsamsten Charakter des Todes: Seine Selbstverständlichkeit. „Der Tod gehört zum Leben“, eine Floskel, die faktischer kaum gelten könnte.

Und deshalb ist es unumgänglich, dass Kinder mit dem Thema konfrontiert werden. Eine gemeinsame Beschäftigung mit dem Thema Tod ist daher wichtig für eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung. Denn je natürlicher und selbstverständlicher wir mit dem Thema umgehen, je weniger wir es tabuisieren, desto eher bereiten wir unser Kind darauf vor, das Thema im Ernstfall nicht zu verdrängen, sondern zu verarbeiten und mit seiner Trauer und seinen Fragen zu uns zu kommen.

Einen schmerzhaften Verlust zu verarbeiten und die Trauer auszuhalten ist gemeinsam leichter, als allein. Und wenn einem selbst die passenden Worte dazu fehlen mögen, dem eigenen Kind die offenen Fragen zu beantworten und die eigenen Gefühle zu beschreiben, dann ist es gut, wenn es Bücher gibt, die den Eltern und Kindern helfen, das Thema anzunehmen, statt zu verdrängen.

 

Wenn mein Kind etwas über seine verstorbene Oma wissen will, dann erzähle ich es ihm. Und wenn es sich an Georg erinnert, wie er trotz seiner Krankheit und Altersschwachheit immer wieder mal unterm Zaun hindurch zu uns kam, um unserer Hündin nachzustellen, dann müssen wir beide lächeln. Die Erinnerungen kann uns keiner nehmen, der Tod schon gar nicht.

 

Carlo Pedersoli ist diese Woche verstorben. Und weil dieser italienische Leistungssportler, Sänger, Komponist und vieles mehr vor allem als Schauspieler bei seinem deutschen Publikum sehr beliebt war, wiederholt ein Fernsehsender gerade in Dauerschleife seine großen Filmerfolge. Denn der Mensch teilt und belebt gerne positive Erinnerungen. Das gibt uns das Gefühl, dass es nicht zu Ende ist, nicht vorbei, dass der Tote eigentlich noch bei uns ist. Ganz so, wie der Fuchs in unserem aktuellen Buch der Woche.

Kurzrezension

Der Fuchs ist alt und seine Tage sind gezählt. Zum Sterben legt er sich an seinen Lieblingsplatz, eine Lichtung im Wald. Die Eule sieht den Fuchs, und sie setzt sich zu ihrem verstorbenen Freund. Sie ist sehr traurig, aber sie weiß, dass der Fuchs gehen musste. Schnee fällt und bedeckt den Fuchs sachte. Alles ist ruhig und friedlich.

Nach und nach kommen auch die anderen Tiere des Waldes, die mit dem Fuchs befreundet waren. Zunächst sitzen sie alle still in ihrer Trauer zusammen. Doch dann fängt die Eule an, zu erzählen, wie sie als Kinder zusammen Blätter im Wind gejagt hatten, sie und der Fuchs. Die anderen erinnern sich daran. Es war eine schöne Erinnerung, und so beginnen die Tiere, auch von ihren ganz persönlichen Erinnerungen an den Fuchs zu erzählen.

Während die Tiere ihre Erinnerungen miteinander teilen, wächst eine Pflanze aus dem Schnee, genau an dem Ort, an dem der Fuchs gestorben war. Sie trägt seine Farbe und wächst mit jeder Erinnerung, die die Tiere sich erzählen. Durch das Teilen ihrer Geschichten verarbeiten die Tiere ihre Trauer und der Baum der Erinnerung wird immer größer und schöner. Er gibt den Tieren Schatten und Lebensraum und so bleibt der Fuchs durch die Erinnerungen seiner Freunde immer ein Bestandteil ihrer Welt.

 

In einfachen Worten und ebenso einfachen wie ausdrucksstarken Zeichnungen wird hier das so Schwere und Unerträgliche greifbar gemacht. Die Erinnerungen, die wir teilen und in uns tragen, können unsere Trauer erträglich machen und uns in schweren Zeiten „Schatten spenden“ und uns „Raum geben“. Solange wir uns liebevoll an die Verstorbenen erinnern, verlassen sie uns nicht.

 

Trauer wird nicht durch ein Wort oder eine Lesestunde bewältigt, Trauer bedarf Zeit und Schmerz wird nicht ungeschehen. Aber ein Buch wie dieses lege ich jedem nahe, dessen Kind sich mit dem Thema Tod beschäftigt. Ob in einer akuten Verlustsituation oder einfach im Alltag – „Der Baum der Erinnerung“ ist ein aufmerksam, einfühlsam und liebevoll geschriebenes und gezeichnetes Bilderbuch für kleine wie größere Kinder.

 

Altersempfehlung: 4-9 Jahre
Vorlesezeit: 5-8 Minuten

Daten zum Buch „Der Baum der Erinnerung“

Titel: Der Baum der Erinnerung
Autor: Britta Teckentrup
Verlag: arsEdition
Jahr/Auflage: 2013

ISBN: 978-3845801841

Der Baum der Erinnerung

TitelwahlBewertung (1-10)Begründung
Punkte gesamt10
Titelwahl10
Aufmachung10Hardcover
quadratisches Format
ruhige, schlichte, graphische Zeichnungen, die die Stimmung des Themas sehr gut aufgreifen
Die Farben sind gut gewählt, besonders der dunkelblau-türkise Einband in Kontrast zur Farbe des Fuchses und des Baumes.
Text/Sprache10Die Sprache ist einfach, ruhig und unaufgeregt, der Text gibt die Stimmung der Geschichte wieder und unterstützt die Wirkung der Bilder sehr gut. Man kann gar nicht anders, als diese Geschichte ruhig und besonnen vorzulesen. Auch für Erstleser ist das Buch aufgrund der Textlänge und Druckweise sehr gut geeignet.
Inhalt10Für den Fuchs ist die Zeit gekommen. Er legt sich an seinen Lieblingsplatz und stirbt. Schnee fällt und beginnt, seinen Körper zu bedecken. Alle Tiere des Waldes mochten ihn und sind sehr traurig, dass er gegangen ist. Nach und nach kommen sie an seinen Sterbeort und trauern still. Dann beginnen sie, einander von ihren Erlebnissen mit dem Fuchs und von ihrer Freundschaft zu erzählen. Es sind schöne Erinnerungen, und so wird ihnen mit jeder Erzählung etwas leichter ums Herz. An der Stelle, an der der Fuchs gestorben ist, beginnt ein Pflänzchen zu wachsen, das mit jeder geteilten Erinnerung wächst und schließlich zum Baum wird. Dieser Baum spendet den anderen Tieren Schatten und Lebensraum und so bleibt die Erinnerung an den Fuchs immer in den Herzen seiner Freunde lebendig.
Pädagogische Themen10Trauer
Trauerbewältigung
Abschied
Erinnerung
Dankbarkeit
Liebe
Freundschaft
Pädagogischer Wert10Dieses Buch geht mit einer großartigen Ausdruckskraft, Einfühlsamkeit, Liebe und Wärme an das Thema Tod und Trauer heran. Es wird nichts verschleiert oder verharmlost, das Sterben und der Tod finden statt. Aber alles geschieht mit einer natürlichen Selbstverständlichkeit und einer Trauer, die keine Verbitterung oder Wut trägt, sondern durch die schönen Erinnerungen und die Akzeptanz der Freunde den Abschied erträglich macht.
Schlüssigkeit/Logik-
Kreativität10